Eine digitale Auszeit nehmen – das ist der neueste Urlaubstrend aus dem Silicon Valley. Für einen bewussten Verzicht auf Smartphones und Apps, neudeutsch „digital detox“, ist Südkorea ein wahrhaft ungeeigneter Ort. Allenfalls Extremurlauber dürften ein digital-detox-Camp in dem ostasiatischen Land als besondere Herausforderung zu schätzen wissen. Denn eines ist v. a. in der Megacity und Metropolregion Seoul mit ihren rund 23 Mio. Einwohnern allgegenwärtig: Smartphones. Egal ob auf der Straße, im Café, im elfstöckigen Einkaufstempel oder in der U-Bahn: Smartphones. Wo man hinschaut Smartphones. Insbesondere die jungen Leute lieben es, diese mit trendigen Smartphone-Hüllen optisch aufzuhübschen. Der Fantasie und dem Geschmack sind dabei keine Grenzen gesetzt.

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Aber die Smartphone-Nutzung der Südkoreaner ist keine Frage des Alters. Vom Kleinkind bis zum Rentner ist eine ganze Gesellschaft online unterwegs. Und das ist kein Zufall, stammen doch zwei der weltmarktführenden Geräte-Hersteller aus Südkorea: der hier allgegenwärtige Branchenführer Samsung und LG.

Neben Hyundai steht insbesondere der Weltkonzern Samsung für den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg des Landes, das sich nach dem Korea-Krieg – mit geballter politischer Unterstützung während der Militärdiktatur von General Park Chung-hee – in nur zwei Generationen vom agrarischen Armenhaus Ostasiens zur boomenden Wirtschaftsmacht entwickelte. So sind die Smartphones von Samsung hier nicht nur Mittel der Kommunikation sondern geradezu Symbol der nationalen Identität.

Dass es um mehr geht als Design- und Lifestyle-Affinität einer Smartphone verrückten Nation, zeigt der Blick in eine x-beliebige Buchhandlung, wo sich koreanisch-sprachige Bücher über internationale technische Simulationssoftware meterweise aneinanderreihen. Hierzulande finden sich in dieser Sparte selbst in Fachbuchhandlungen allenfalls eine Handvoll Exemplare.

Experten sehen in Südkorea einen digitalen Vorreiter und eine Art Glaskugel für die Entwicklung in anderen Ländern. Um sich zum dortigen Stand der Digitalisierung zu informieren reiste im April 2015 eine deutsche Delegation des Ausschusses Digitale Agenda nach Südkorea und Japan.

Hochentwickelte Infrastruktur und Technikbegeisterung

Tatsächlich nimmt Südkorea in Sachen digitale Infrastruktur eine Spitzenposition ein. Seit Mitte der 90er Jahre fördert die Regierung die Internetkonnektivität mit großem Einsatz. Mit Erfolg: Nirgendwo auf der Welt surft man schneller im Netz. Funkt in Südkorea bereits das Mobilnetz der fünften Generation (5G), das zu den olympischen Winterspielen 2018 in Pyeonchang flächendeckend bereitgestellt werden soll, stellt die Regierung weitere Milliarden zur Verfügung, um den Vorsprung noch zu vergrößern. Für ungehindertes Surfen im Internet sorgt freies WLAN, das in Seoul quasi an jeder Ecke zur Verfügung steht. Die Förderung der Bereiche Internet der Dinge, Big Data und Cloud Computing sind erklärtes Ziel der Regierung (die keinen Zweifel daran lässt, dass den Worten auch Taten folgen). Pilotprojekte wie die vierzig Kilometer vor Seoul gelegene Smart City Songdo zeigen die Dimensionen der digitalen Transformation im Hinblick auf vernetztes Wohnen und Arbeiten.

Im Alltagsleben der südkoreanischen Bevölkerung hat die Digitalisierung längst Einzug gehalten. Ob beim Bezahlen mit dem Smartphone oder beim weit verbreiteten digitalen Handy-Fernsehen. Was ihrer Vorreiterrolle entgegenkommt: Die Südkoreaner gelten als Early Adopter und stehen technischen Neuerungen traditionell sehr offen gegenüber. Zum Beispiel in den Schulen, wo schon seit 2007 in Modellschulen das digitale Zeitalter eingeläutet wurde. Bis Ende 2015 sollen in einem Großprojekt alle Schulbücher digitalisiert und mit umfangreichen E-Learning Programmen ausgestattet sein.

Grenzen der Entwicklung

Ob und inwieweit der technologische Fortschritt zu einer transparenteren und partizipativen Arbeitswelt im Sinne von Arbeiten 4.0 führt, steht auf einem anderen Blatt. Betriebliche Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf stecken noch in den Kinderschuhen und die eher kollektive Mentalität trägt zu individuellen Lösungen nicht gerade bei. Die Zahl der Arbeitsstunden der Beschäftigten ist im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch.

Die Grenzen der rein auf technologischen Fortschritt konzentrierten Entwicklung machen Kritiker am Beispiel von New Songdo City fest. Als Top-down-Projekt des US-Konzerns Cisco werde die Planstadt von den Menschen als Lebensraum nicht akzeptiert. Technisierung allein reicht nicht aus. Der Mensch darf bei der digitalen Transformation nicht ins Hintertreffen geraten.

Weitere Risse bekommt die Hightech-Fassade durch die soziale Ungleichheit, die in der südkoreanischen Öffentlichkeit mehr und mehr thematisiert wird. Denn bis heute ist der wirtschaftliche Erfolg des Landes an einige wenige, staatlich protegierte Großkonzerne gekoppelt. Einen Mittelstand, vergleichbar dem deutschen Mittelstand, gibt es praktisch nicht. Nicht nur der Arbeitsmarkt ist geteilt, sondern auch die digitale Entwicklung. So scheint die Digitalisierung in den kleinen und mittleren Unternehmen noch nicht angekommen zu sein.

Vorbild deutscher Mittelstand

Doch auch hier ist Bewegung. Während die deutsche Seite Anknüpfungspunkte beim digitalen Vorreiter Südkorea sucht, blickt das asiatische Land auf das Vorbild des starken, international agierenden deutschen Mittelstands. Konkret werden u. a. erfolgreiche Umsetzungsbeispiele eines Smart-Factory-Konzepts in mittelständischen deutschen Firmen gesucht. Wer hätte das gedacht …?

Was wir von Südkorea lernen können? Nicht nur endlose Debatten über den digitalen Wandel führen, sondern ihn auch konkret und entschlossen umsetzen. Denn eines ist sicher – die Welt wartet nicht auf uns. Schon gar nicht der asiatische Kontinent.

Dieser Beitrag ist im Zuge einer privaten Südkorea-Reise unserer Mitarbeiterin Julia aus der Wiesche (@JWiesche) entstanden.

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