„Im Jahr 1900 verließ gerade einmal jeder zehnte Erwerbstätige auf dem Weg zur Arbeit seinen Wohnort. Vor 60 Jahren war es noch jeder vierte. Heute verlassen 60 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ihre Gemeindegrenze, um zu arbeiten – das sind über 17 Millionen Menschen in Deutschland“, schreibt Claas Tatje. Der Zeit-Redakteur ist Autor des Buches Fahrtenbuch des Wahnsinns – Unterwegs in der Pendlerrepublik und beschreibt die Gruppe der Pendler als eine unterschätzte und sehr unzufriedene Macht am Arbeitsmarkt.

Beachtliche 67 Prozent der Berufspendler fahren mit dem Auto zur Arbeit – Staus und Verlust an Lebensqualität inklusive. Der durchschnittliche Besetzungsgrad im Berufsverkehr liegt nach Analysen des Umweltbundesamtes bei rund 1,2 Personen pro PKW und ist damit der niedrigste aller Fahrtzwecke. 8,5 Millionen sind täglich länger als eine Stunde unterwegs. Rund sechs Millionen fahren mehr als 25 Kilometer zu ihrem Arbeitsplatz.

Cloud-Technologien eröffnen neue Möglichkeiten

In Organisationen von Wirtschaft und Staat dominiert derzeit noch das Dogma der Präsenzzeiten. Das bestätigt Arbeitspsychologin Antje Ducki nach einer Untersuchung betrieblicher Mikropolitik: „Je mehr ich mich im Unternehmen zeige, desto eher spiele ich dabei mit. Hier ein kleines Lächeln, dort ein Plausch auf dem Flur und jeden Mittag eine Verabredung zum Essen.“ Karriere wird mit Sichtbarkeit am Arbeitsplatz gleichgesetzt. Chefs sehen keinen Vorteil darin, wenn sich Pendler – wann immer möglich – selbst die Arbeitszeit einteilen.

Amerikanische Wissenschaftler veröffentlichten im Blog der Harvard Business Review eine Untersuchung darüber, welche Mitarbeiter bei ihren Chefs am beliebtesten sind. Das Ergebnis: Wer früh um 7 Uhr anfängt, schneidet in der Gunst der Vorgesetzten besser ab als einer, der den exakt identischen Job um 11 Uhr antritt.

Dabei stehen längst Technologien zur Verfügung, mit denen sich Arbeit wesentlich intelligenter und vor allem nahezu ortsunabhängig organisieren lässt. Treiber dafür sind digitale Vernetzung, Video und technische Mobilität. Gerade Videotechnologie wird für Unternehmen zunehmend attraktiv und ermöglicht die wichtige visuelle Wahrnehmung der Gesprächspartner. Die Live-Schalte in den Konferenzraum ist heute keine Besonderheit mehr und überbrückt Distanzen jeder Dimension und Zeitzone.

Zentralisierung sorgt für überlastete Ballungszentren

Neben dem Credo „Nur wer im Büro sitzt, arbeitet auch“ ist ein Trend zur Zentralisierung zu beobachten. Immer mehr Organisationen werden aus mannigfaltigen Gründen an einem Ort zusammengeführt. Obwohl inzwischen viele Arbeitende technologisch für eine dezentrale Arbeit am Laptop ausgestattet sind, gibt es immer weniger Beschäftigte, die überwiegend oder manchmal von zu Hause arbeiten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat nachgewiesen: Seit 2008 ist die Zahl dieser Erwerbstätigen um 800.000 zurückgegangen, obwohl die Zahl der Beschäftigten insgesamt um 1,5 Millionen angestiegen ist.

Eine unmittelbare Folge dieser Entwicklung ist, dass Ballungszentren voller und teurer werden. Ländliche Regionen hingegen verlieren Unterneh- men und Arbeitskräfte. Ein zunehmend generelles Problem, das längst nicht mehr nur Ostdeutsch- land betrifft. Manche Regionen bluten regelrecht aus und sind von Überalterung bedroht, da die „Jungen“ und „Mobilen“ diese Regionen verlassen.

Die Technologie ist da, wir müssen nur wollen

Räumlich verteiltes Arbeiten ist technologisch gelöst. Den Management-Funktionen fehlen aber noch praktische Erfahrungen mit zeitgemäßem Distanz-Management. Nachweisbare Medienkompetenz sollte nach Ansicht von Josephine Hofmann vom Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO deshalb zu einem zentralen Auswahlkriterium für Führungs- und Koordinationsaufgaben avancieren und eine bewertbare Größe in Führungssystemen werden.

Wenn wir uns ernsthaft vom Status einer Pendlerrepublik verabschieden wollen, reichen Placebo-Maßnahmen wie Shuttle-Services, Fahrgemeinschaften oder der Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel nicht aus. Insofern gilt es den Mobilitätskonzepten von Umweltbundesamt und Verkehrsministerium neue Formen der Zusammenarbeit entgegenzusetzen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich Teil der Proklamation „Zukunft der Arbeit„.

Weiterführende Literatur:

Barnes, C.M./Yam, K.C./Fehr, R.: Flexible Arbeitszeiten: Morgenstund‘ hat Gold im Mund. Harvard Business Manager http://www.harvardbusinessmanager.de/blogs/ wer-bei-flexibler-arbeitszeit-frueh-anfaengt-foerdert- seine-karriere-a-972095.html

Hofmann, J.: SNS – Schaffe, Net Schwätza – (k)ein Motto für Wissensarbeiter? Fraunhofer IAO – BLOG http://blog.iao.fraunhofer.de/ns-schaffe-net- schwatza-kein-motto-fur-wissensarbeiter/

Tatje, C. (2014): Fahrtenbuch des Wahnsinns: Unterwegs in der Pendlerrepublik. Kösel-Verlag.

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