Ein Beitrag von Dr. Anna Walter aus dem Booksprint „Unternehmensverantwortung im digitalen Wandel.“  Anna Walter wird als Referentin beim  „3. CDR Debattenforum – Wie kann Führung Vertrauen schaffen?“ am 28. Oktober 2020, 15.00h – 16.30h Uhr dabei sein. Hier anmelden!

Im digitalen Zeitalter entstehen für Unternehmen etliche neue Chancen, ihre Wertschöpfung zu steigern. Mit digitalen Produkt-, Service- oder Geschäftsmodellinnovationen lassen sich zusätzliche Einnahmequellen gewinnen. Zugleich können durch neue digitale Lösungen die Effizienz und die Produktivität der eigenen Aufbau- und Ablauforganisation maßgeblich optimiert und somit Verschwendung im Wertschöpfungsprozess reduziert werden. Daraus ergeben sich zwei Fragen zur Verantwortung von Unternehmen in der digitalen Transformation:

  • Welche Rolle spielt der Mensch, wenn durch Digitalisierung Wertschöpfung gesteigertund Verschwendung reduziert werden sollen?
  • Welche normative Wirkung haben die in der Digitalisierung weit verbreiteten Managementansätze »Lean & Agile« für die Gestaltung der Arbeitswelt von morgen?

Im Folgenden finden all diejenigen, die sich in der digitalen Transformation mit der Steigerung von Wertschöpfung und der Weiterentwicklung unternehmensinterner Arbeitswelten beschäftigen, einige Impulse zur weiteren Diskussion, Vertiefung und Schärfung einer digitalen Unternehmensethik.

Effekte der digitalen Transformation auf unsere Arbeits- und Lebenswelt

Die digitale Transformation mit ihren Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt manifestiert sich auf vielfältige Art in unserer heutigen Arbeits- und Lebenswelt. Unternehmen tragen hier eine besondere Verantwortung für die Auswirkungen ihres Handelns auf die Gesellschaft im Allgemeinen – hinsichtlich sozialer, ökologischer und ökonomischer Aspekte –, aber auch auf die Arbeitswelt der eigenen Belegschaft im Besonderen. Der Mensch als Individuum nimmt im doppelten Sinne an der digitalen Transformation teil: zum einen als arbeitende Person und Akteur im globalen Wirtschaftssystem (z.B. als Produzent:in, Dienstleister:in, Lieferant:in, Politiker:in) und zum anderen als Privatperson und Mitglied der Gesellschaft (als Kund:in, Konsument:in, im Ehrenamt etc.).

Abbildung 1: Digitalisierung von Arbeits- und Lebenswelt

Betrachtet man das Weltwirtschaftssystem insgesamt, gewinnen Unternehmen mit einem hohen Anteil digitaler Wertschöpfung sowie daten- bzw. plattformbasierten Geschäftsmodellen immer mehr und schneller an Wert als traditionelle Unternehmen mit einem hohen Anteil an materieller, physischer Wertschöpfung.

Im Juli 2019 meldete das Handelsblatt, dass erstmals die beiden digitalen Big Player Amazon und Microsoft mit einem summarischen Börsenwert von 2,047 Billionen Dollar wertvoller seien als alle 763 deutschen börsennotierten Unternehmen, die zusammen auf 2,027 Billionen Dollar kommen.

Bemerkenswert ist weiterhin, dass die Top-10-Unternehmen der US-amerikanischen und der asiatischen Plattformökonomie in den vergangenen sechs Jahren jährlich im Schnitt um mehr als 20 Prozent an Wert gewonnen haben, wohingegen die Top 10 der deutschen Dax-Unternehmen ihren Börsenwert pro Jahr im Schnitt nur um zehn Prozent steigerten.

Die Big Five der Tech-Giganten (Alphabet mit dem Tochter-unternehmen Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft – kurz: GAFAM), aber auch andere digitale Vorreiter aus klassischen Industriezweigen nutzen die neuen Technologien zudem, um Teile der eigenen Wertschöpfungskette komplett zu automatisieren bzw. zu digitalisieren oder auch einzelne Prozessschritte (z.B. Produktentwicklung, Bestellvorgänge über Online-Portale,
Bezahlvorgänge) an die Kunden auszulagern.

Die exponentielle Zunahme digitaler Datenspeicherungs-, Verarbeitungs- und Vernetzungskapazitäten macht Wissen, Nachrichten, Meinungen, aber auch Fake News über soziale und physische Grenzen hinweg online überall verfügbar. Vor dem Hintergrund wachsender Daten- und Informationsfluten stellen sich neue Fragen rund um Informationssicherheit und Datenschutz, auf die letztlich auch jede:r Einzelne im privaten und beruflichen Umfeld persönliche Antworten finden muss. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der sogenannten Digitalisierung der Kundenschnittstelle zu, über die Daten als das neue Gold des digitalen Zeitalters gewonnen werden.

Soziale Medien und Kollaborationstools verändern unsere Interaktions- und Kommunikationsgewohnheiten, ermöglichen mobiles, zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten und ergänzen oder ersetzen gar den persönlichen, zwischenmenschlichen Austausch.

Ein digitales »always on«-Umfeld stellt zudem neue Anforderungen an die methodischen, sozialen und persönlichen Kompetenzen von Menschen, insbesondere auch am Arbeitsplatz (Priorisierung, Konzentrationsfähigkeit, Agilität, Achtsamkeit, Resilienz etc.). Während das Risiko steigt, dass die Gesellschaft durch Phänomene wie Filterblasen und Shitstorms immer stärker gespalten wird, ermöglichen digitale Vernetzungsplattformen den Menschen, über große räumliche wie auch soziale Distanzen miteinander in Kontakt zu treten und gemeinsame Interessen als Community zu sozialen Bewegungen auszuweiten.

Die Menschheit steht heute vor drängenden Fragen, die aufgrund ihrer Dynamik und Komplexität mithilfe neuer digitaler Werkzeuge wie Big Data oder Künstlicher Intelligenz höchstwahrscheinlich besser bewältigt werden können als ohne diese: Digitale Innovationen führen daher in den letzten Jahren vermehrt auch in solchen Feldern zu Fortschritten, in denen disruptive Veränderungen im Sinne der Nachhaltigkeit am meisten benötigt werden. Unter der Überschrift »Digital Social Innovation« setzen sich beispielsweise Unternehmen zum Ziel, digitale Lösungen für soziale Herausforderungen (SocialTech) zu entwickeln, und suchen innovative Ansätze rund um Nachhaltigkeitsthemen wie Klimawandel (GreenTech), Ressourcenknappheit, soziale Ungleichheiten oder Bildung.

Die Veränderungen der Lebens- und Arbeitswelt durch die Digitalisierung werden in den nächsten Jahren an Geschwindigkeit und Ausmaß weiter zunehmen. Der Erfolg von Unternehmen wird daher künftig vor allem davon abhängen, wie gut es den Akteuren gelingt, die Chancen der Digitalisierung für die eigene Wertschöpfung im doppelten Sinne zu realisieren: zur Verbesserung des bestehenden Geschäftsmodells (»optimieren«) sowie für die Entwicklung neuer Produkte, Services und Geschäftsfelder (»innovieren«). Voraussetzung für den Erfolg ist, die unternehmensinterne Arbeitswelt – also die Rahmenbedingungen, unter denen Arbeit stattfindet – so zu gestalten, dass die Potenziale digitaler Technologien sowohl zur Optimierung als auch für Innovationen bestmöglich ausgeschöpft werden.

In diesem Kontext stellt sich die Frage:

Welche Rolle spielt der Mensch, wenn es in einer zunehmend digitalisierten Arbeitswelt um die Steigerung von Wertschöpfung und die Reduktion von Verschwendung geht?

Aus CSR-Perspektive sollten digitale Neuerungen, mit denen Unternehmen die eigene Arbeitswelt und ihre Belegschaft wie auch die externe Lebenswelt der Gesellschaft beeinflussen, einen sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltigen Nutzen stiften.

Daraus lässt sich ableiten: Eine digitale Ethik für die Arbeitswelt von morgen muss dafür sorgen, dass der Nutzen digitaler Neuerungen im beruflichen Umfeld immer vor dem Hintergrund des Mehrwerts für Mensch, Gesellschaft und Umwelt bewertet wird. Technischer Fortschritt, der rein finanzielle Ziele verfolgt, darf demnach nur dann realisiert werden, wenn er auch zu einer Verbesserung oder zumindest zu keiner Verschlechterung der Arbeits- und Lebenswelt von Menschen führt.

Eine solche Prämisse lässt sich leicht als theoretisch-ethische Richtlinie niederschreiben – aber wie passt eine derartige Aussage zu gängigen Managementansätzen im Rahmen der Digitalisierung? Zur Beantwortung dieser Frage soll ein Blick auf die Werte und Prinzipien geworfen werden, die hinter »Lean« und »Agile« stecken – zwei Managementansätze, die für die Gestaltung der Arbeitswelten von morgen hoch relevant sind und daher auf ihre normative Wirkkraft hin geprüft werden sollten.

Abbildung 2: »Lean« und »Agile«: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Die digital-ethische Relevanz von »Lean« und »Agile«

»Lean« und »Agile« sind Managementansätze, die über gemeinsame Prinzipien miteinander verbunden sind, sich jedoch auch in wesentlichen Aspekten unterscheiden. Eine Übersicht über beide Konzepte bietet Abbildung 2.

Wann welche der beiden Arbeitsweisen jeweils mehr Vorteile bietet, kann auch anhand von Modellen aus dem Kontext des Komplexitätsmanagements entschieden werden, wie etwa der Stacey-Matrix von Ralph D. Stacey oder dem Cynefin-Modell von Dave Snowden. Ein etwas konkreter gefasstes Rahmenmodell beschreibt einen Raum, der Kundenanforderungen sowie Umfeldbedingungen, in denen gearbeitet wird, auf zwei Achsen in Bezug zueinander setzt (Abbildung 3). In einem Umfeld, in dem es aus Kundensicht vor allem auf Stabilität, Qualität und Zuverlässigkeit ankommt, sind Lean-Prinzipien und -Methoden daher gut geeignet, die Optimierung bekannter Produkte und bestehender bzw. standardisierter Prozesse zu realisieren.

In einem eher komplexen, unsicheren Umfeld, in dem es vor allem darum geht, Innovationen hervorzubringen oder individuelle Lösungen für Probleme zu finden, die sich so noch nie gestellt haben, sind agile Arbeitsweisen gut geeignet, um kreative Ideen hervorzubringen, diese schnell zu realisieren und auf Hindernisse oder sich ändernde Anforderungen und Kundenwünsche schnell zu reagieren.

»Lean« als normativer Rahmen für die Optimierung bestehender Geschäftsmodelle

Die Wurzeln von »Lean« reichen bis in die 1950er-Jahre zurück und basieren auf dem Toyota-Produktionssystem und dessen Werten und Prinzipien (Ohno 2013). Das Konzept des Lean Managements hielt Anfang der 1990er-Jahre mit der Veröffentlichung der MIT-Studie »The Machine That Changed the World« Einzug in die amerikanische und europäische Fertigungsindustrie (Roos, Womack und Jones 1991). Um jedoch die ethische Bedeutung des Lean-Ansatzes für die digitale Transformation richtig zu verstehen, ist es notwendig, zu den japanischen Ursprüngen zurückzugehen. Denn bis heute führen Übersetzungsfehler und Missverständnisse zu diversen Irrtümern und Problemen in der praktischen Anwendung der Lean-Grundgedanken.

Abbildung 3: Hybrider Raum für Lean und Agile

Die Chancen von »Lean« in Kombination mit der Digitalisierung bestehen darin, existierende Arbeitsabläufe durch Digitalisierung hinsichtlich bestimmter Kennzahlen zu optimieren (Qualität, Zeit, Kosten):

So können neue Technologien Menschen bei schwierigen oder komplexen Tätigkeiten unterstützen, wie Big Data und Künstliche Intelligenz in Entscheidungsprozessen oder auch digitale Devices und Mensch-Roboter-Kollaborationen im Fertigungsprozess. Darüber hinaus können einzelne manuelle Tätigkeiten oder auch ganze Prozessabschnitte automatisiert und zusätzlich digital vernetzt werden. In diesem Fall wird menschliche Arbeitsleistung komplett von Maschinen, Robotern und Algorithmen übernommen.

Der Lean-Ansatz enthält – wird er richtig verstanden – für den Einsatz von Maschinen und Algorithmen klare Werte und Prinzipien, damit aus wirtschaftlicher sowie aus ethischer Perspektive die richtigen und nicht die falschen Tätigkeiten digitalisiert werden. An dieser Stelle sollen drei weit verbreitete Irrtümer des Lean  Management richtiggestellt werden, um die eigentliche normative Wirkkraft von »Lean« zu verdeutlichen.

1. Irrtum: Unternehmenszweck ist nicht Gewinn zu maximieren..

…sondern Mehrwert zu generieren

Das Toyota-Produktionssystem und Lean Management bauen auf folgendem Grundsatz auf: Ein Unternehmen ist nicht in erster Linie dazu da, Gewinn zu erwirtschaften, sondern es geht darum, einen Mehrwert für Mitarbeiter, Kundschaft, Gesellschaft und Wirtschaft zu stiften. Umsatz und Gewinn sind hierbei Mittel zum Zweck, damit alle am Produktionssytem beteiligten Menschen (Führungskräfte, Mitarbeiter, Lieferanten etc.) ein gutes Auskommen haben und das Unternehmen langfristig überleben kann. Somit gilt:

»Das Unternehmen selbst ist ein Zusammenschluss von mündigen Menschen, die sich eine Struktur geben, um allen Beteiligten die Existenzgrundlage zu sichern, und dabei ihre Denk-, Lern- und Kommunikationsfähigkeiten nutzen« (Furukawa-Caspary 2016: 36)

2. Irrtum: Lean bedeutet nicht Reduktion von Verschwendung…

…sondern von unnötigem Aufwand (japanisch »muda«)

Der Begriff »Lean« (i.S. v. »schlank«) wurde von den Forschern des MIT gewählt, die in den 1990er-Jahren beobachteten, dass in japanischen Produktionssystemen mit weniger Aufwand mehr Ergebnis erzielt werden konnte. Jedoch ist »Lean« im Kern kein Sparprogramm, um Kosten zu reduzieren, sondern es geht darum, kontinuierlich zu lernen und zu verbessern, um nur den Aufwand zu betreiben, der aus Kundensicht zu einer echten Wertsteigerung führt. So kann es »muda« (jap. für »unnötiger Aufwand«) sein, wenn Arbeitsschritte ausgeführt werden, die aus Kundensicht gar nicht notwendig sind – diese wären dann auch in digitaler Form »muda«. Genauso wäre es »muda«, einen teuren Roboter zu kaufen, wenn eine Low-Cost-Automation-Lösung den gleichen Effekt hätte. Und es wäre auch »muda«, einen qualifizierten Mitarbeiter eine anspruchslose oder gar gesundheits-schädliche Tätigkeit ausüben zu lassen, die eine Maschine genauso gut oder besser erledigen könnte. Daraus folgt: »Schlank kann ein System nur werden, wenn man den Menschen nicht als Kostenfaktor betrachtet, sondern als den Erfolgsfaktor, der die Aufgabe hat, das Zusammenspiel [des Systems] zu verbessern« (Furukawa-Caspary 2016: 45).

3. Irrtum: Kaizen bedeutet nicht Optimierung durch Rationalisierung…

…sondern durch Lernen und Verbessern

In Unternehmen, in denen Menschen vor allem als Kostenfaktor gesehen werden, sind Lean-Management-Aktivitäten oft an das Ziel geknüpft, Arbeitskräfte einzusparen – zum Beispiel durch Rationalisierung. Das Ersetzen von Menschen durch Maschinen war im eigentlichen Kern von »Lean« jedoch nie das Ziel. Der Lean-Gedanke setzt – ganz im Gegenteil – auf die Potenzialentfaltung von Menschen (nicht von Maschinen) als den entscheidenden Wettbewerbsvorteil eines Unternehmens, wie folgende Zitate zeigen:

»Ein Roboter macht den erfahrenen Handwerker niemals überflüssig, sondern braucht ihn quasi als seinen Ausbilder« oder »Der Mensch ist nicht Teil einer Maschine. Er hat sich nicht der Logik und der Ratio zu unterwerfen. Der Mensch hat vielmehr die Aufgabe, mit Sinn und Verstand sein Werkzeug, das Material und den Prozess zu beherrschen« (Furukawa-Caspary 2016: 36). Oder auch: »Um gescheite Dinge zu tun, braucht es gescheite Menschen«
(ebd.: 43).

»Agile« als normativer Rahmen für Innovationen und neue Geschäftsmodelle

Die Wurzeln des agilen Arbeitens basieren einerseits auf den Grundprinzipien des Lean Managements und andererseits auch auf Theorien und Erfahrungen der Selbstorganisation und des organisationalen Lernens, die unter anderem im Militär, aber auch im medizinischen Sektor und in der Softwareindustrie entstanden sind. Die agilen Werte und Prinzipien, wie sie heute im Rahmen der Digitalisierung zur Anwendung kommen, wurden erstmalig im sogenannten Agilen Manifest von 17 Softwareentwicklern im Jahr 2001 schriftlich festgehalten. Aus ethischer Sicht ist es nun spannend, an welchen Prinzipien sich agil arbeitende Menschen orientieren, die sich auf dieses Manifest berufen. Dort stehen auf die Frage nach der Bewertung folgende Antworten (Agiles Manifest 2001):

»We are uncovering better ways of developing software by doing it
and helping others do it.
Through this work, we have come to value:
Individuals and interactions over processes and tools
Working software over comprehensive documentation
Customer collaboration over contract negotiation
Responding to change over following a plan
That is, while there is value in the items on the right,
we value the items on the left more.«

Im Scrum-Guide als Handbuch für eine der bekanntesten agilen Frameworks bzw. Prozessmodelle steht geschrieben: »Wenn die Werte Selbstverpflichtung, Mut, Fokus, Offenheit und Respekt durch das Scrum-Team verkörpert und gelebt werden, werden die ScrumSäulen Transparenz, Überprüfung und Anpassung lebendig und bauen bei allen Beteiligten Vertrauen zueinander auf. […] Der erfolgreiche Einsatz von Scrum beruht darauf, dass alle Beteiligten kompetenter bei der Erfüllung dieser fünf Werte werden« (Schwaber und Sutherland 2017: 5).

Bei Agilität geht es also sehr stark darum, wertebasiert zu agieren, um so bessere Arbeitsbedingungen für Menschen und Teams zu schaffen, denen es dadurch wiederum gelingt, bessere Arbeitsergebnisse zu erzielen: »Agilität ist eine Haltung, das ethisch Richtige zu tun […]. In der Folge verdienen sie [die Unternehmen] mehr und werden wertvoller, obwohl sie auf schnellen Umsatz verzichten. Ganz elementar ist dabei das ›Mindset‹. Angelehnt an den Grundgedanken agiler Arbeitsweisen wie etwa Scrum zeichnen sie [die Unternehmen] sich durch eine Einstellung zum Umgang mit Mitarbeitern, Kunden und dem Management aus, die von Selbstverantwortung und dem freiwilligen Willen zur Leistung geprägt ist« (Gloger 2019).

Fazit

Insgesamt gesehen lässt sich sagen: Die beiden in der Digitalisierung etablierten Managementansätze »Lean« und »Agile« schätzen den Wert des einzelnen Menschen wie auch die Zusammenarbeit von Menschen in Gruppen für den Unternehmenserfolg höher ein als den Wert von Maschinen und Technologien. Diese Rangfolge zwischen Mensch und Maschine kennzeichnet beide Ansätze gleichermaßen – und zwar sowohl, wenn es um die Optimierung bestehender Geschäftsmodelle und -prozesse geht (Lean), als auch, wenn es um Innovationen und die Entwicklung neuer Produkte, Services und Geschäftsmodelle geht (Agile). Für die digital-ethische Gestaltung der Arbeitswelt von morgen bedeutet dies:

Der digitale Fortschritt muss zu einer Arbeitswelt führen, die sich nicht an dem Diktat von Maschinen, Technik und Algorithmen orientiert.

Stattdessen sollten im Rahmen der Digitalisierung optimale Arbeitsbedingungen für Menschen geschaffen werden, damit diese ihr volles Potenzial in die Entwicklung und Umsetzung von Ver-besserungen und Innovationen einbringen können, die wiederum einen sozial-ökonomisch und wirtschaftlich nachhaltigen Nutzen stiften.

Konkrete Kriterien, an denen sich die Gestaltung der Arbeitswelt von morgen orientieren kann, können beispielsweise folgende sein:

  • In einer digital-ethisch guten Arbeitswelt werden menschliche Eigenschaften, Fähigkeiten und individuelle Besonderheiten als wertvoll betrachtet: Die Verschwendung von menschlichem Potenzial – etwa im Sinne von Talent, Gesundheit, Motivation, Kreativität – wird konsequent vermieden bzw. wo noch vorhanden kontinuierlich reduziert.
  • Menschliche Arbeitsleistung kommt nicht nur, aber vor allem in den Feldern zum Einsatz, in denen andere Menschen (Kunden, Leistungs- empfänger) ihre Mitmenschen einer Maschine vorziehen, selbst dann, wenn eine Maschine die Tätigkeit rein technisch in der Lage wäre auszuführen (Pflege, Bildung, Therapie, Erziehung etc.).
  • Mühsame, langweilige, stressige, belastende Tätigkeiten werden durch Digitalisierung für den Menschen entweder angenehmer – einfacher, erfüllender, gesünder, spannender, sinnvoller etc. – oder komplett durch Maschinen, Roboter oder Künstliche Intelligenz ersetzt.
  • Menschen gestalten ihre Arbeit selbst und nutzen ihren Sinn und Verstand sowie neue Technologien und Methoden, um Prozesse und Abläufe immer weiter zu optimieren (Job Crafting).
  • Menschen können in einer digital-ethisch guten Arbeitswelt ihre Stärken selbstbestimmt und flexibel einbringen und ihr volles Potenzial entfalten. Sie erleben Sinn in ihrer Tätigkeit und fühlen sich wertvoll in dem, was sie tun.
  • Digitale Innovationen (Produkte, Services, Geschäftsmodelle etc.) führen vor allem in solchen Feldern zu Fortschritten, in denen im Sinne der Nachhaltigkeit (CSR) disruptive Veränderungen am meisten benötigt werden (z.B. Klimawandel, Ressourcen-knappheit, Überbevölkerung).
  • Im digitalen Zeitalter wird der Mensch nicht losgelöst, sondern eingebettet in seine Umwelt betrachtet. Dies bedeutet, dass bei allem Fortschritt die planetaren Grenzen und die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt akzeptiert und respektiert werden. Daraus folgt, dass die Verschwendung von Ressourcen vermieden wird, um den natürlichen, menschlichen Lebensraum zu bewahren.

Lean und Agile sind – sofern beide Ansätze richtig verstanden und angewendet werden – hoch relevant für die digitale Ethik in Unternehmen. Denn die Werte und Prinzipien, die mit »Lean« und »Agile« einhergehen, fördern eine Arbeitswelt, in der sich Wertsteigerung durch Digitalisierung danach bemisst, inwiefern sie die Arbeitsbedingungen für Menschen als entscheidenden Wettbewerbsvorteil verbessert.

Bei jeder Entscheidung über die Einführung und Anwendung einer neuen digitalen Technologie stellt sich demnach die Frage, ob die Konsequenzen eher dazu führen, die Potenziale von Maschinen und Algorithmen voll zum Einsatz zu bringen – oder die Potenziale des Menschen.

 


Agiles Manifest (2001). »Manifesto for Agile Software Development«. (Download 26.4.2020).
Furukawa-Caspary, Mari (2016).
Lean auf gut Deutsch. Band 1: Einführung und Bestandsaufnahme. Norderstedt.
Gloger, Boris (2019). »Agile Inception als nachhaltiges Gesellschaftskonzept«. Springer  Professional 27.5.2019. (Download 26.4.2020).
Ohno, Taiichi (2013). Das Toyota-Produktionssystem. Frankfurt am Main.
Roos, Daniel, James P. Womack und Daniel T. Jones (1991). The Machine That Changed the World: The Story of Lean Production. New York.
Schwaber, Ken, und Jeff Sutherland (2017). »Der Scrumguide. Der gültige Leitfaden für Scrum: Die Spielregeln«.  (Download 26.4.2020).

 

Unternehmensverantwortung im digitalen Wandel
Unternehmensverantwortung im digitalen Wandel
Zum Start des Projekts »Booksprint Corporate Digital Responsibility (CDR)« im Sommer 2019 war die Welt noch eine andere. Aber auch und vielleicht gerade in Krisenzeiten verlieren die grundlegenden Fragen nicht an Relevanz. Zwar erfordern Krisen in erster Linie Ad-hoc-Maßnahmen, wie wir sie im Zuge von Corona etwa beim Thema »Datenteilen und  Pandemiebekämpfung« erleben. Doch wir müssen auch die längerfristigen gesellschaftlichen Wirkungen solcher Maßnahmen über die Krise hinaus im Blick behalten. Insofern halten wir die hier versammelten Beiträge gerade jetzt für äußerst wichtig. Denn: Das Coronavirus wirkt wie ein Katalysator für digitale Innovationen – von der Datengewinnung über die algorithmenbasierte Datenverwertung bis hin zu neuen Formen der Arbeit.
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