Mit meinen 29 Jahren gehöre ich einer Generation an, die noch nie viel von starren Strukturen, klassischer 9-5 Arbeitszeitgestaltung und eintönigen Karrierepfaden gehalten hat. Wenn ich meine Vorstellungen von einer idealen Arbeitswelt mit denen meiner Eltern vergleiche, entdecke ich bereits große Unterschiede.
Die Generation vor mir ist noch mit der Tyrannei der Stechuhr groß geworden, während meine Generation Individualisierung ganz groß schreibt.
So wünschen wir uns nicht nur individuelle Abenteuerreisen durch fremde Länder, sondern auch einen individuellen Arbeitsalltag.
Einen Arbeitsalltag, der sich auch unseren privaten Bedürfnissen anpasst, und nicht andersherum. Die ersten Ansätze dieser freieren und flexibleren Gestaltung der Arbeit sind bereits erkennbar. In vielen Unternehmen gibt es die Möglichkeit auf Sabbaticals, individuelle Wochenstunden, flexible Arbeitszeiten und interne Karrieren. Mit Corona und dem Boom der mobilen Arbeit haben sich die Möglichkeiten noch einmal vielerorts vergrößert.
Viele Wünsche meiner Generation werden endlich erfüllt, zumindest scheint das auf den ersten Blick so. Allerdings birgt das mobile Arbeiten auch ein großes Risiko.
Ständig erreichbar, ständig verfügbar
Beim mobilen Arbeiten – und ganz speziell im Homeoffice – verschwimmen die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben immer weiter. Auch wenn ich ganz entspannt zwischendurch die Wäsche aufhängen oder unproblematisch (ohne Urlaub zu nehmen) meine Familie in Bayern besuchen kann, wird die Entgrenzung von Arbeit und Privatleben manchmal zum Problem.
Dabei ist mir in letzter Zeit immer häufiger aufgefallen, was die Ursache für das Problem zu sein scheint: die ständige Erreichbarkeit.
Anstatt mit meinen KollegInnen eine gemütliche Mittagspause im Lieblingsrestaurant um die Ecke zu verbringen, esse ich am Schreibtisch während ich Mails beantworte. Der Laptop bleibt übers Wochenende an und Mails zu beantworten, wird zur Normalität. Während meinem täglichen Spaziergang in der Hoffnung ein wenig Frischluft und Sonne zu erhaschen, nehme ich das Handy mit und zögere nicht, auf Anrufe und Nachrichten beruflicher Art zu reagieren. Das sind nur ein paar Beispiele dafür, wie man langsam in eine ständige berufliche Erreichbarkeit rutscht – 24/7 auf Abruf. Diese Entwicklung wird durch die zunehmende Digitalisierung sämtlicher Prozesse des Arbeitsalltags, welche durch Corona noch einmal beschleunigt wurde, vorangetrieben.
Meine Arbeitsmaterialen sind dank Handy und Laptop quasi ständig verfügbar, genauso wie ich ständig verfügbar werde, auch wenn das niemand von mir erwartet.
Erreichbarkeit selbstbestimmt regeln
Doch bei genauerer Betrachtung ist mir folgende Frage in den Sinn gekommen: Ist das Problem tatsächlich die ständige Erreichbarkeit, oder eher meine Unfähigkeit meine Erreichbarkeit selbstbestimmt zu steuern? Und da habe ich mich an einen Begriff aus meiner Masterarbeit erinnert: die subjektive Grenzziehung. Normalerweise gehöre ich zu den Menschen, die Berufliches und Privates nicht besonders streng trennen. Im Gegenteil: ich sehe sehr viele Vorteile darin, die Grenzen verschwimmen zu lassen.
Sonntagabends Mails lesen hat auf mich eher eine beruhigende Wirkung, weil ich mich dann auf die kommende Arbeitswoche einstellen kann. Während einem Spaziergang auf dringliche berufliche Anfragen zu antworten, stresst mich normalerweise selten und vermittelt mir eher das Gefühl von Flexibilität.
Mir ist klar geworden, dass ich nichts gegen die ständige Erreichbarkeit habe, sondern nur noch nicht gelernt habe, meine Erreichbarkeit in dieser neuen Homeoffice Situation subjektiv so zu steuern, dass ich damit zufrieden bin.
Gerade beim mobilen Arbeiten müssen Grenzen individuell gezogen werden. Manchen Menschen tut die ständige Erreichbarkeit nicht gut, während andere davon profitieren. Wichtig ist nur, dass jeder Mensch selbst dazu befähigt sein sollte, die Grenze so zu ziehen und der aktuellen Situation entsprechend anzupassen, dass er oder sie sich damit wohl fühlt. Die technischen Mittel dazu haben wir in der Regel bereits (App-Zeiten festlegen, Laptops einfach herunterfahren, Benachrichtigungen auf stumm schalten). Allerdings arbeiten nicht alle in einem modernen und toleranten Unternehmen wie ich und nicht überall wird diese subjektive Grenzziehung akzeptiert.
Was muss also passieren, damit alle Arbeitnehmer:innen befähigt werden, ihre Erreichbarkeit selbstbestimmt zu regeln und somit eine optimale Vereinbarkeit von Privatleben und Berufsleben zu erreichen?
Hier kommt die Rolle des Staates ins Spiel. Laut Jürgens et. al (2017: 204) garantiert der Staat „(…) einen Ausgleich der Interessen, indem er die Einzelnen nicht den Kräften des Marktes überlässt und für soziale Wohlfahrt sorgt“. Dieser Ausgleich der Interessen beinhaltet auch, dass der Staat zwischen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen vermittelt. Im Falle der ständigen Erreichbarkeit müssen Regierungen also dafür sorgen, dass allen Arbeitnehmer:innen die Möglichkeit zur subjektiven Grenzziehung gewährleistet wird.
Ein Teil der Lösung könnte ein Gesetz zur Nicht-Erreichbarkeit sein.
Für ein solches Gesetz hat kürzlich die Mehrheit im Europäischen Parlament gestimmt. Bislang gibt es keine europaweite Vorschrift zu diesem Thema und daher soll die Kommission einen einheitlichen gesetzlichen Rahmen schaffen, auf dessen Grundlage die Mitgliedsstaaten ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit umsetzen können.
Dieses soll beinhalten, dass Handy und Laptop außerhalb der regulären Arbeitszeiten ausgeschaltet werden dürfen, ohne dass Arbeitnehmer:innen negative Konsequenzen drohen. Dieses Recht würde demnach den Druck der ständigen Erreichbarkeit von den ArbeitnehmerInnen nehmen und Druck auf die ArbeitgeberInnen ausüben, die diese bisher verlangt haben.
So zumindest die Theorie. Denn in der Praxis wird ein Gesetz zwar den Druck auf ArbeitgeberInnen, die Erreichbarkeit ihrer MitarbeiterInnen nicht zu sehr zu beanspruchen, erhöhen, trotzdem kann ein Gesetz hierbei nur unterstützend wirken und keinen hundertprozentigen Schutz garantieren. Allerdings gibt es einen Wandel in der Arbeitswelt, der dafür sorgt, dass Unternehmen sich trotzdem den Wünschen und Forderungen von jungen Arbeitskräften anpassen müssen.
Der „War for talents“, das Kämpfen um die sinkende Anzahl an jungen Arbeitskräften bedingt durch den demografischen Wandel, nimmt immer weiter zu.
Schon heute spüren Unternehmen, dass sie in diesem Wettbewerb nur bestehen können, wenn sie sich von alten Methoden der Arbeitswelt verabschieden und sich den Ansprüchen der neuen Generation fügen. Vielleicht kann die Kombination dieser Entwicklung und die gesetzliche Manifestation tatsächlich helfen, aber das wird sich zeigen.
Was mich persönlich betrifft, muss ich einfach lernen, meine Handlungen wieder an die aktuelle Lage anzupassen und etwas achtsamer damit umgehen. Die Mittel und Akzeptanz dafür sind mir vom Arbeitgeber bereits gegeben, jetzt muss ich es nur noch für mich umsetzen: die Grenze individuell neu ziehen.
Literatur:
Jürgens, K.; Hoffmann, R.; Schildmann, C. (2017) Arbeit transformieren!. Denkanstöße der Kommission »Arbeit der Zukunft«. Transcript Verlag: Bielefeld.
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Lieber Herr Brandt-Pollmann,
danke, dass Sie meinen Beitrag gelesen haben und danke für Ihren kritischen Kommentar.
Erst einmal haben sie berechtigt eine Schwachstelle meines Beitrages aufgedeckt. Natürlich ist es nicht allen ArbeitnehmerInnen möglich ihre Arbeitszeit flexibel zu gestalten. Meine Familie ist (teils selbstständig) im Handwerk tätig und die Themen Erreichbarkeit, Homeoffice und Arbeitszeitflexibilisierung sind aufgrund der Unterschiedlichkeit unseres Arbeitsalltags schon oft diskutiert wurden. Mir ist bewusst, dass ich mich in dieser Hinsicht in einer privilegierten Position befinde (und das sind nicht meine einzigen Privilegien). Niemand sonst in meiner Familie hat die Freiheit sich entweder zu entscheiden, wann die Arbeit vollbracht werden soll, oder wann sie für Berufliches erreichbar sein wollen. Manche Berufsgruppen können sich keine Flexibilität erhoffen, weder bezüglich der zeitlichen, noch der örtlichen Arbeitsorganisation und somit auch bezüglich ihrer Erreichbarkeit oder Verfügbarkeit. Im Juli 2020 hat in Deutschland allerdings 36,7% der arbeitenden Bevölkerung sogenannte “Büroarbeit” erledigt und laut Bitkom haben im Dezember 2020 mehr als 10 Millionen Menschen im Homeoffice gearbeitet. Der Beitrag betrifft insofern sehr viele, aber eben nicht alle am Arbeitsmarkt beteiligten Personen. Das hätte ich in meinem wohl erwähnen sollen, hatte ich allerdings als selbsterklärend angenommen. Trotz diesen Umständen würde ich mir natürlich wünschen, dass selbst für Branchen, in denen diese angesprochene Flexibilität auf den ersten Blick nicht umsetzbar erscheint, kleine Fortschritte erzielt werden und auch hier verstärkt Maßnahmen zur Gewährleistung der psychischen Gesundheit der ArbeitnehmerInnen umgesetzt werden (durch flexible Schichtplanung und mehr betriebliches Mitgestaltungsrecht zum Beispiel).
Zum Thema „War for talent“ würde ich Sie sehr gern auf meinen vorherigen Kommentar und diesen Ted-Talk verweisen: https://www.ted.com/talks/rainer_strack_the_workforce_crisis_of_2030_and_how_to_start_solving_it_now?language=en#t-189328 .
Dabei geht es um eine demografische Entwicklung des Arbeitsmarkts, die unumgänglich ist. Der Begriff ist wissenschaftlich geprägt (also nicht von mir ausgedacht) und bezieht sich nicht auf besondere Personen- oder Berufsgruppen und deren Qualifikation, sondern auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung.
Ich hoffe ihre Fragen sind damit beantwortet, kommen Sie ansonsten gerne auf mich zurück. Beste Grüße
Ich beglückwünsche Sie zu Ihren Wahl- und ja auch Zugriffsmöglichkeiten, die ich selbst in den vergangenen 20 Jahren erlebt habe. Ich empfinde sie wie Sie ja wohl eher als Privileg und teile Ihre Einschätzung der Gefahren bzw. Probleme und Forderungen.
Aber – und hier setzt meine Kritik an Ihrem Beitrag an: Meinen Sie allen Ernstes, das alle Arbeitnehmer:innen befähigt werden können, ihre Erreichbarkeit selbstbestimmt zu regeln?
Das ist doch weit weg von den Anforderungen so vieler Tätigkeiten, die zu bestimmten Zeiten erledigt werden müssen, weil sie sonst nicht erledigt werden. Bars, Restaurants, der größte Teil der medizinische Versorgung, Sozialarbeit, Präsenzhandel, industrielle Produktion…….. Hier werden feste Daten gesetzt, an denen die Leistung zu erbringen ist, nicht vorher und nicht später.
Ich will auch die von Ihnen beschriebenen Probleme Ihrer Arbeit nicht schönreden, im Gegenteil. Aber wenn Sie den War of Talents – schon ansprechen: Es waren schon immer Personen mit gerade gesuchten Fähigkeiten, die privilegierter arbeiten und leben konnten als andere. Zum Beispiel mit höheren Gehältern aber auch eben mehr Gestaltungsfreiheiten. Weil viele dies erkennen und in diese Jobs streben, werden – nach einer Phase der Marktsättigung- viele dieser Alleinstellungsmerkmale nach und nach abgebaut und damit auch die zugehörigen Privilegien und die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten. Ich wünsche Ihnen, dass Sie viele Wahlmöglichkeiten in Ihrem Leben genießen können, aber ich möchte Sie auch daran erinnern, dass viele Arbeitenden diese Möglichkeiten nicht haben und niemals haben werden.
Und was bedeutet der Begriff War of Talents“: hat der Barkeeper kein Talent, hat die Ärztin kein Talent? Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zu den „deplorables“ von Hillary Clinton.
Herzliche Grüße
Stefan Brandt-Pollmann
Hallo Frau Röttgers,
danke für das Lob und die konstruktiven Anmerkungen. In Ihrem Kommentar stecken sehr viele unterschiedliche und berechtigte Fragen .
Zum Thema Fachkräftemangel hänge ich Ihnen hier einen Link zu einem Ted-Talk an. Der Redner zeigt darin sehr gut anhand von Statistiken, warum wir immer weiter in einen „War for Talent“ rutschen. Das Problem ist dabei hauptsächlich demografischer Natur. Es hat weniger damit zu tun, dass wir das Fachwissen älterer Menschen nicht nutzen wollen, sondern dass schlichtweg nicht genügend Menschen im arbeitsfähigen Alter existieren (werden), wenn die Generation der Babyboomer den Arbeitsmarkt verlässt. Zudem spielt natürlich auch die Digitalisierung eine wichtige Rolle. Viele ArbeitnehmerInnen haben nicht die notwendigen technischen Skills, um die Jobs in der Digitalbranche zu erledigen. Ein Re-Skilling wäre natürlich in vielen Fällen die Lösung, würde aber wie gesagt nichts gegen den allgemeinen Mangel an Arbeitskraft nutzen.
Zum Thema subjektive Grenzziehung sagen Sie etwas sehr Wichtiges. Obwohl die generelle Wahrnehmung von Arbeit schon wesentlich geändert hat (und hier kann ich nur aus einer subjektiven Sicht schreiben), haben Produktivität und Leistung immer noch einen sehr hohen Stellenwert. Aussagen wie „Ich hab leider keine Zeit, weil ich länger arbeite“ oder „ich kann deine Anfrage erst Morgen beantworten, weil ich viel zu viel auf dem Tisch habe“
erfüllen uns schon fast mit Stolz. Wir erwarten uns Anerkennung und Würdigung, wenn wir fleißig sind und viel zu tun haben. Dieses gesellschaftliche Bild von Arbeit muss sich auf jeden Fall wandeln! Damit geht auch Ihre Definition zum Glücksempfinden einher. Wir müssen wieder lernen, dass Arbeit nicht das ist, was uns als Menschen ausmacht. Das liegt allerdings in unserer eigenen Hand!
Zum Gesetz der Nicht-Erreichbarkeit: ich stimme Ihnen zu, dass die subjektive Grenzziehung auf jeden Fall ausschlaggebend ist. Allerdings wird nicht von allen ArbeitgeberInnen eine subjektive Grenzziehung toleriert. Insofern könnte das Gesetz zumindest helfen, die Wahrnehmung dieses Themas bei den ArbeitgeberInnen zu ändern.
Trotzdem muss sich auch jedes Individuum damit auseinandersetzen können, was in den selbst gesetzten Phasen der Nicht-Erreichbarkeit passiert. Allerdings denke ich, dass die Beantwortung dieser Frage nur auf subjektiver Ebene funktioniert. Ich zum Beispiel bin sehr gern in der Natur, mache Sport und lese sehr gern. Aber nur, weil das für mich funktioniert, bedeutet das nicht, dass es für alle funktioniert.
Link zum Thema Fachkräftemangel:
https://www.ted.com/talks/rainer_strack_the_workforce_crisis_of_2030_and_how_to_start_solving_it_now?language=en#t-189328
Sehr geehrte Frau Hanisch,
Ihr Artikel hat mir sehr gut gefallen. Was ich mich allerdings seit Längerem frage: Ist unser Problem des Fachkräftemangels nicht hausgemacht? Vernachlässigen wir nicht die älteren Generationen, die uns ihr Fachwissen vermitteln könnten, die wir aber nicht mehr einstellen, weil sie zu alt und verbraucht sind (was natürlich nur eine subjektive Einschätzung/Phrase ist, um es uns einfacher zu machen)? Halten wir uns und unsere Arbeit für so wichtig und definieren darüber unser allumfassendes Glücksempfinden und können uns gar nicht mehr anderweitig selbst beschäftigen oder uns auf den Moment fokussieren: beim Spaziergang im Park die Luft anhalten oder auch tief einatmen, die Frische spüren, die Vögel zwitschern hören, den Duft des Grases spüren/wahrnehmen? Ich denke nicht, dass ein Gesetz nötig ist, sondern die eigene Grenzziehung, genau wie Sie es auch gesagt haben. Brauche ich die dringende Aufmerksamkeit von außen und wende mich dem Inneren gar nicht mehr zu, weil ich verlernt habe, mich mit mir selbst zu beschäftigen? Letztlich brauche ich das Handy, weil ich will, das mich jemand anruft, weil ich dann ja „wichtig“ und „wertgeschätzt“ bin für die unglaublich wichtige Arbeit, die ich tue. Das ist jetzt überspitzt formuliert, aber ist es nicht so und was definiere ich für mich selbst als Arbeit? Ist es nicht auch Arbeit, mich in diesem Hamsterrad zu zwingen, mich darauf zu besinnen, welche Werte dabei verloren gehen oder was mir selbst vielleicht wichtig ist. Können wir uns selbst und die Ruhe nicht mehr ertragen, weil wir gar nicht mehr wissen, was wir dann mit uns anfangen sollen?
Herzliche Grüße
Cathrin Röttgers