Arbeit ist wichtig, denn sie bringt Sinn und Geld in unser Leben. So weit, so überein. Aber wer sagt eigentlich, dass wir viel arbeiten müssen? Hard working scheint nicht nur ein positives Attribut im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu sein sondern auch hierzulande, wo eine häufige Antwort auf die Frage “Wie geht’s?” im neuen Jahrtausend noch lautet “Busy, und du?” OECD-weit gilt Deutschland zwar als Land mit sinkender Arbeitszeit, trotzdem verbringt der Durschnitt noch 1400 Stunden, also fast 180 ganze Arbeitstage jährlich in Büros und Werkstätten.

 Weniger Arbeit, mehr Vielseitigkeit

Ich wurde letztes Jahr 50 Jahre alt, bin vor etwas mehr als zwei Jahren überraschender- und großartigerweise Vater geworden und habe kurz vor der Geburt meines Sohnes beschlossen, mich als Berater selbstständig zu machen und gleichzeitig weniger zu arbeiten. Warum?

Weil spät Vater werden bedeutet, dass sich die klassische Abfolge von Studieren, Arbeiten und Rente vermischt. Plötzlich scheint alles drei gleichzeitig wichtig: Die Möglichkeit, ständig dazuzulernen, mit etwas Sinnvollem Geld zu verdienen und vor allem viel Zeit für die Familie zu haben.

Im dritten Jahr arbeite ich nun als Freiberufler höchstens 100 vergütete Tage im Jahr. Das sind weniger als die Hälfte der Tage, die ich vorher in interessanten aber zeitaufwändigen Vollzeitbeschäftigungen verbracht habe.

Mit meiner Frau zusammen kann ich jetzt unseren Sohn ganz nah beim Heranwachsen begleiten sowie beträchtliche Zeit in Selbststudium, Entwicklung und ehrenamtliche Aktivitäten investieren.

In den letzten Jahren konnte ich neben meinem Kerngeschäft der Beratung zur Beschäftigungspolitik auch Beiträge für Kulturmagazine verfassen, verschiedenste Influencer aus unterschiedlichen Branchen zu Herzensthemen interviewen und mich in neuen Feldern wie Neo-Dilettantismus und augmentierter Realität fortbilden. Diese hybride Form des Arbeitens ist möglich, weil zum einen Zeit flexibler ist und sich zum anderen ein explorative und beweglichere Form des Arbeitens empfiehlt, um eine ausreichende Höhe von bezahlten Tagen zu produzieren.

Pflicht und Verantwortung

Das Verständnis von Arbeit ist stark von Pflichtbewusstsein geprägt, also dem Antrieb bestimmte externe Anforderungen zu erfüllen. Das ist guter Kitt für Hierarchien und jene transaktionalen Übereinkünfte, auf denen unsere Arbeitswelt nach wie vor basiert. Ich bin kein Verfechter davon, dass Pflicht der Feind der Freiheit ist und als Vater und Freiberufler weiß ich wohl, wie es klingt, wenn sie ruft. Gleichwohl wirkt Pflicht so wertlos und schwach, wenn sie rein extrinsisch ist und nicht mit ihrer selbstbewussteren Schwester Hand in Hand geht, nämlich der Eigenverantwortung. Wer selbst entscheidet und verantwortet, was auf der Tagesordnung steht, liefert besser. Wenn ich mir meine Lebenszeit selber einteile, muss ich nicht fast die Hälfte mit Prokrastination verbringen. Erzwungenes Pflichtbewusstsein will mit Bingewatching, Sozialen Medien und Konsum ausgeglichen werden.

Habe ich hingegen Einfluss auf Struktur, Stimulus und Zuwendung in meinem und dem Leben anderer brauche ich das Glück nicht zu suchen, sondern es kommt von selbst.

Das liebe Geld

Die 100 bezahlbaren Tage müssen sich natürlich rechnen. Diskussionen um alternative Arbeitsformen machen nur dann Sinn, wenn die Existenz gesichert ist – am besten über das absolute Mindestmaß hinaus und auch noch dann, wenn ich nicht mehr 100 Tage arbeiten kann oder will. Man ist gut beraten, einige der freigesetzten Lerntage darauf zu verwenden, sich finanziell weiterzubilden. Geld ist ein interessantes Gebilde, das sehr viel Freiheit schafft, wenn es verfügbar ist.

Ich rede nicht unbedingt von Vermögen, sondern von ausreichend Kaufkraft für ein würdevolles Leben. Die Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen ist interessant, vor allem weil eine gleich verteilte Summe Cash Paternalisierung durch segmentierte Zuschüsse eliminieren würde und Zeit für Eigenverantwortung freisetzt. Noch interessanter allerdings, als sich eine endlose politische Diskussion um die Konsequenzen der Bedingungslosigkeit zu liefern, wäre es, wenn analysiert würde, wie das ganze Geld, dass durch Digitalisierung generiert und/oder gespart wird eigentlich verwendet werden soll. Wenn Roboter unsere langweiligen Aufgaben übernehmen und keine Personalkosten verursachen, bietet es sich dann nicht an, das geschaffene Kapital in bedeutende und zukunftsfähige Branchen zu stecken, etwa Pflege oder Kunst? Ich jedenfalls hätte nichts dagegen, wenn ich für meine kulturelle Arbeit mehr als ein Taschengeld oder gar nichts bekäme.

Angst vor der Faulheit

Die dunkle Seite eines transformierten Pflichtbewusstseins ist die Angst vor der Faulheit. Wer faul, so scheint das calvinistische Mantra, ist auch lebensunwürdig. Die Slow-Culture, zum Beispiel für Essen oder Freizeitaktivitäten oder die Mindful-Bewegung zeugen aber von der Sehnsucht faul oder besser kontemplativ zu sein, kurz: dem Verlangen, über seine Zeit eigenverantwortlich zu verfügen.

Meine größte Herausforderung mit den 100 Arbeitstagen ist es, die gewonnene Zeit verstärkt auch kontemplativ zu nutzen.

Wir starten zuhause jeden Morgen mit ausgedehntem Frühstück. Diese strukturierte Form der Faulheit hilft zu entschleunigen und die Hektik vom Tagesbeginn fernzuhalten. Ich wünsche mir aber auch ungeplante, smartphonebefreite Zeiten, in der man einfach aus dem Fenster schaut oder sich mit seinen inneren Comfort und Discomfort Zonen vertraut macht, ohne dafür eine Kursgebühr zahlen zu müssen.

Das neue Jahrzehnt

Dieses Jahr 2020 läutet eine Dekade ein, in der die Zukunft der Arbeit nicht nur auf Konferenzen präsentiert, sondern Teil unseres Alltags werden wird. Die Antwort auf die Frage, wieviel jeder arbeiten wird, ist mehr denn je in den Händen der einzelnen und nicht mehr vorwiegend die Entscheidung von Arbeitgebern. Aus meiner beschränkten aber sehr positiven Erfahrung, nicht mehr als 100 vergütete Tage im Jahr zu arbeiten, halte ich die Fortführung von Diskussionen um Eigenverantwortung, intelligente Absicherungssysteme und geteilte Werte für virulent, um Arbeit weiterhin gesellschaftlich relevant zu gestalten.

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