Das Projektteam „Betriebliche Arbeitswelt in der Digitalisierung“ veröffentlicht gemeinsam mit dem MÜNCHNER KREIS e.V. am 23. Juni 2020 die Zukunftsstudie VIII Leben, Arbeit, Bildung 2035+.
Die Studie fragt nach Veränderungen in unseren zentralen Lebensbereichen, die bis 2035 durch KI herbeigeführt oder beeinflusst wurden. Wie werden sich KI-Technologien mittelfristig auf den beruflichen und sozialen Alltag auswirken und welche Handlungsfelder werden sich daraus für die Politik und die Gesellschaft ergeben? Sie gibt die Stimmen der ExpertInnen wieder, die realistischere und vor allem positivere Narrative für die zukünftige Nutzung und Entwicklung neuer KI-Technologien fordern.
Die Grundannahme:
Künstliche Intelligenz wird unser Leben nachhaltig verändern, wird die Art und Weise, wie wir künftig arbeiten, weitreichend beeinflussen, wird die Inhalte und die Ausrichtung unsers Bildungssystems neu definieren und wird durch die Corona Pandemie wesentlich an Bedeutung gewinnen.
Das internationale Delphi, welches im Zeitraum von November 2019 bis März 2020 mehr als 500 ExpertInnen erreichen konnte, wurde von 11 starken Partnern aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft unterstützt.
Es ist uns Menschen gemein, dass uns Unsicherheit und offene Fragen belasten. Wir suchen nach Antworten, um mit ihnen unsere Lebenswelten zu strukturieren. Die wissenschaftliche Begleitforschung zu der fortschreitenden Digitalisierung in Deutschland nutzt bei ihrer Suche nach Antworten das immer breiter werdende Themenspektrum und den zunehmenden Facettenreichtum des Untersuchungsgegenstandes. Wir vom Team Zukunft der Arbeit der Bertelsmann Stiftung haben uns genau deshalb dazu entschieden, gemeinsam mit dem MUENCHNER KREIS deren inzwischen achte Zukunftsstudie durchzuführen.
Menschen neigen bei der Auseinandersetzung mit Aussagen dieser Art dazu, unterschiedliche Bilder zu entwickeln: die einen erleben Fantasie, Kreativität und Utopie, die anderen vielleicht eher Dystopie und Unsicherheit.
Je nachdem, ob wir zu der digital affinen Gruppe unserer Bevölkerung gehören und dabei in Chancen und Möglichkeiten denken, oder ob wir die unaufhaltsame Weiterentwicklung der Technologie als bedrohlich wahrnehmen und künstliche Intelligenz als etwas, das womöglich irgendwann dem Menschen übermächtig sein wird, bewerten wir die entstehenden Bilder positiv oder negativ.
Forscher und Wissenschaftler haben diese Annahmen über die Zukunft jedenfalls dazu gebracht, weiter- und tiefergehende Fragen zu stellen. Inhaltlich wichtige Fragen wie: Werden sich diese Veränderungen eher wirtschaftlich oder gesellschaftlich auswirken? Sind diese durch eine sich immer weiter entwickelnde KI hervorgerufenen wirtschaftlichen und/oder gesellschaftlichen Veränderungen positiven oder negativen? Wie tief wird KI in unser privates Leben eingreifen? Werden personalisierte KI-Systeme uns wie ein Schatten begleiten und werden wir sie akzeptieren oder tolerieren? Wie wird künstliche Intelligenz Einfluss nehmen auf unsere Art zu konsumieren, zu wohnen, mobil zu sein und Medien zu nutzen? Wo wird die große Stärke von KI, nämlich den Menschen zu unterstützen, am ehesten spürbar werden und ihm helfen, Dinge zu tun, die er selbst zwar verrichten kann, dafür aber mehr Zeit, Kraft oder andere Ressourcen bräuchte? Wird sich KI auf unsere Bildungswege und –chancen auswirken? Wird KI unsere privaten Beurteilungs- und Entscheidungsprozesse verändern, sodass nicht mehr wir selbst als Mensch entscheiden (Stichwort Berufswahl, Wahl des Wohnortes usw.)? Und falls ja, wie wird das sein? Und wann? Kurzfristig bis ungefähr 2025, oder langfristig bis 2035 und darüber hinaus? Oder womöglich sogar nie?
Fantasiereisen und das Zeichnen möglichst positiver Zukunftsszenarien reichen für die Beantwortung dieser Fragen leider nicht aus. Man muss vielmehr eine übergeordnete Perspektive einnehmen und klären, wer künftig das Heft des Handelns in die Hand nehmen und den Diskurs zur Nutzung und Entwicklung von KI gestalten wird.
Denn dieser Instanz kommt die Verantwortung zu, die Gestaltungskraft auszuüben, die es braucht, um menschenzentriert und verantwortungsvoll den Einsatz und die Entwicklung von KI-Technologie zu lenken.
Die Wirtschaft, die hier aktuell noch die größten Einflüsse ausübt, soll nach Auffassung der von uns befragten Experten ihre alleinige Gestaltungshoheit verlieren, soviel sei bereits verraten.
Die Zukunft der Arbeit und KI
Wenn wir an Themen wie die Zusammenstellung von Teams durch KI, die Veränderung administrativer Führungsaufgaben, die Entstehung neuer Unternehmen mit hoher KI-Durchdringung und auch die durch KI mögliche stärkere Transparenz von Arbeitsleistung denken, dann ist zu erwarten, dass hier besonders starke Veränderungen stattfinden werden.
Das menschliche Kompetenzen in der Mensch-Maschine-Interaktion von Unternehmen nach wie vor vorrangig betrachtet und entsprechend zielgerichtet weiterentwickelt werden zeigt, dass das Vertrauen in die menschliche Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit unangefochten ist. Sowohl für die Wirtschaft (87 Prozent) als auch für die Gesellschaft (76 Prozent) sehen die BefragungsteilnehmerInnen hier positive Tendenzen.
83 Prozent der ExpertInnen schätzen weiterhin, dass die menschliche Arbeitsleistung kurz- bis mittelfristig transparenter und damit kontrollierbarer wird. Die positiven Auswirkungen dieser Entwicklung verorten sie dabei eher einseitig auf Seiten der Wirtschaft.
Skeptisch sind die ExpertInnen bei der Annahme, dass ohne KI, oder anders, ohne personalisierte Assistenten, der Mensch nicht mehr arbeitsfähig sein wird. Der Zeitpunkt des Eintreffens dieser daher eher langfristig nach 2035 gesehen, wobei 15 Prozent sogar davon ausgehen, dass dies nie der Fall sein wird. Und falls doch, dann hat dies eher positive Auswirkungen auf die Wirtschaft, als auf die Gesellschaft.
Beeindruckend einig sind sich die Experten dahingegen bei der Frage, ob der Einsatz von KI die Aufgabenbereiche des Managements verschieben wird: 76 Prozent meinen, dass KI administrative Aufgabenbereichen wie Aufgabenplanung, Zielerreichung und Kontrolle übernehmen wird. Da nach Aussage der ExpertInnen (73 Prozent) in Unternehmen so ein Großteil der Entscheidungen künftig von KI-Technologien vorbereitet wird, ist das Management hauptsächlich für Personalführung, Motivation und Kreativleistungen verantwortlich und weniger in betriebliche Entscheidungsprozesse eingebunden. Ein neues Verständnis von Management wird sich entwickeln. Beeindruckende 80 Prozent der ExpertInnen erwarten dadurch sogar positive Effekte für die Wirtschaft.
Für den Lebensbereich Arbeit wird es nach Einschätzung der Experten vor allem in den Dimensionen Beurteilungsprozesse, Veränderung zwischenmenschlicher Beziehungen und Sinnstiftung für den Einzelnen zu besonders starken Einflüssen und Veränderungen durch den vermehrten Einsatz von KI kommen.
Hier geht es weitaus weniger um regulatorische Rahmenbedingungen oder den Konsens in der Gesellschaft. Eine nähere Erläuterung der einzelnen Dimensionen findet sich im Punkt Studiendesign.
Anknüpfend an unsere Studie zu der Plattformarbeit in Deutschland wird die Frage nach dem Wandel der Beschäftigung hin zu überwiegend hybriden Tätigkeiten in der Zukunftsstudie ganz ähnlich beantwortet: 59 Prozent der Befragten meinen, dass langfristig der überwiegende Teil der Menschen in Deutschland als Freelancer tätig sein wird.
Die hohe Flexibilität hinsichtlich der Auswahl von Arbeitsinhalten und Unternehmen führt dazu, dass Beschäftigung kaum noch im Sinne langjähriger Betriebszugehörigkeit erfolgt. Skeptischer als in der Studie zur Plattformarbeit wird allein der Aspekt der positiven Auswirkungen auf die Gesellschaft eingeschätzt. Hier erwarten nur 25 Prozent einen echten Nutzen für die Gesellschaft (bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben, bessere Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Handicaps usw.). 57 Prozent prognostizieren sogar negative Effekte.
Ein Wehmutstropfen noch zum Schluss: fast die Hälfte der Befragten glaubt nicht daran, dass sich durch den Einsatz von KI unsere wöchentliche Arbeitszeit reduzieren wird. Die andere, dahingehend optimistischere Hälfte hingegen sagt, dass eine Verkürzung der Arbeitszeit sowohl der Wirtschaft (65 Prozent) als auch der Gesellschaft (64 Prozent) zu Gute kommen würde.
Weitere Studienergebnisse – Ein Schwenk in die Zukunft
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Kräfteverhältnisse auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz verschieben werden. 31 Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass aktuell die Wirtschaft den KI-Diskurs dominiert. Nur 15 Prozent sehen sie auch künftig noch als den mächtigsten Akteur. 34 Prozent sind der Meinung, dass in Zukunft vielmehr die Gesellschaft (34 Prozent) sowie die Politik (20 Prozent) die größte Gestaltungskraft ausüben werden.
Der Gesundheitsbereich, die Verbrechensbekämpfung und das lebenslange Lernen werden profitieren
Die bis 2035 am stärksten von KI-Technologien beeinflussten Lebensbereiche werden nach Auffassung der BefragungsteilnehmerInnen die Mobilität, der Gesundheits- und Pflegesektor, der Medienkonsum und der Bereich Arbeit sein. Der überwiegende Teil der Befragten geht davon aus, dass ein verstärkter Einsatz von KI-Anwendungen mit mehr positiven als negativen Folgen sowohl für Unternehmen als auch für das Gemeinwesen verbunden sein wird. Von KI profitieren werden beispielsweise die Verbrechensbekämpfung oder auch die Erschließung neuer Beschäftigungsfelder mit hoher KI-Durchdringung. Aber auch die zunehmenden Möglichkeiten für (Aus-)Bildung und lebenslanges Lernen werden begrüßt und sie stellen nach Einschätzung der ExpertInnen ein wichtiges Merkmal für Zukunftsfähigkeit dar.
Neue Bildungsinhalte und passende Lern- und Lehrmethoden werden gebraucht
Unsere Fähigkeit zu Kreativität und Phantasie erweist sich in der Studie als wertvolles Gut und sie wird eine – wenn nicht sogar die wichtigste menschliche Schlüsselqualifikation der Zukunft sein. Kreative Arbeiten und die individuelle Weiterentwicklung menschlicher Stärken lassen uns bewusst die Unterschiede zwischen maschinellen bzw. technologisch begründeten Prozessen erkennen und Abgrenzungen vornehmen. Um die in künstlicher Intelligenz liegenden Potentiale im Sinne möglichst vieler Menschen sinnvoll nutzen zu können, braucht es nach Meinung der Befragten vor allem neue Bildungsinhalte und passende Lern- und Lehrmethoden. Die KI-Technologien werden der Mehrheit der Befragten zufolge zu einem Bedeutungsanstieg des bestehenden Bildungssystems führen, jedoch nicht zu dessen Auflösung.
Wo Licht ist, ist manchmal auch Schatten
Bei einigen Thesen gibt es eine spürbare Uneinigkeit, wenn es um die Entscheidung geht, ob eine bestimmte Entwicklung positive oder negative Implikationen für die Wirtschaft oder die Gesellschaft haben wird. Dazu gehören beispielsweise der Datenschutz, die absehbare Auflösung klassischer Beschäftigungsverhältnisse und die höhere Transparenz der Arbeitsleistung, die der stärkere Einsatz von KI mit sich bringt. Die Mehrheit der BefragungsteilnehmerInnen befürwortet die Notwendigkeit staatlicher Regulierung und die Kontrolle von KI-basierten Produkten und Dienstleistungen. Die so zu erzielenden positiven Wirkungen schreiben sie aber eher dem Gemeinwohl als den Unternehmen zu. Die Weiterentwicklung von KI-Technologien künftig stärker auf das Gemeinwohl auszurichten, ist eine der am häufigsten genannten Anforderungen in Bezug auf Nutzung und Entwicklung von KI.
KI braucht mehr Gemeinwohlorientierung und ganzheitliche Gestaltung
Insgesamt sprechen die Ergebnisse der Studie eine deutlich positive, optimistische Sprache: in der Wahrnehmung der Befragten wandelt sich die Diskussionen mehr und mehr weg von der rein technischen Betrachtungsweise von KI, hin zu mehr Nutzer- und Gemeinwohlorientierung und ganzheitlichen Gestaltungs- und Nutzungsmöglichkeiten. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Forderung nach mehr Einsatzmöglichkeiten von KI-Technologie an den Orten unseres Lebens: in den Städten – Stichwort Smart City, und gleichzeitig auch außerhalb der Ballungsräume. Themen wie Navigation, Orientierung, Konsum, Mediennutzung und auch Gesundheit sind hier Anwendungsgebiete, die sowohl das Leben auf dem ruhigen Land, wie auch in der quirligen Stadt verbessern helfen können.
Das Forschungsteam, welches vor inzwischen fast 1,5 Jahren zusammengekommen ist, verfolgte mit der Studie die Vision, dass der Diskurs um den Einsatz, die Nutzung und die Entwicklung von Technologien mit künstlicher Intelligenz entmystifiziert und stattdessen positiv, transparent und chancenorientiert ausgerichtet werden sollte. Skepsis und vorschnellem Urteil sollte eine solide Datenbasis gegenübergestellt werden, die auf mehreren Ebenen argumentiert und den Nutzen für das Gemeinwohl, die Wirtschaft und die Gesellschaft in den Vordergrund rückt. Die Ergebnisse vervollständigen und bereichern nun unsere Vision.
Den Fokus auf die menschzentrierte Auseinandersetzung zu legen und den rein technologisch geführten Diskurs um diese Perspektive zu ergänzen, wird also eine der Hauptaufgaben der politischen und gesellschaftlichen Überlegungen zur Nutzung und Entwicklung der KI-Technologien der Zukunft werden. Nur so können wir sicherstellen, dass eine breite gesellschaftliche Akzeptanz geschaffen wird und die Nutzung künstlicher Intelligenz als Ergänzung und Unterstützung bei der Bewältigung unserer unterschiedlichen Lebenskontexte begriffen werden kann.
Zum Studiendesign
Für die aktuelle Zukunftsstudie wurde die bereits in den vorherigen Phasen bewährte Delphi-Methode angewendet: 513 ExpertInnen, die meisten (468) davon aus Deutschland, bewerteten in zwei aufeinander aufbauenden Befragungswellen zwischen November 2019 und März 2020 insgesamt 53 Zukunftsthesen. Zu jeder These wurden sie um ihre Einschätzung gebeten, mit welcher Wahrscheinlichkeit die jeweilige Aussage innerhalb der nächsten zehn Jahre eintreten wird. Die Studienteilnehmer rekrutierten sich aus dem Themenkontext Technologieentwicklung, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz.
Unterteilt in die drei großen Untersuchungsbereiche Leben, Arbeit und Bildung ordneten sich die Befragungsteilnehmer zuvor in einem Registrierungsverfahren einem Fragebogenthema zu. So wurde gewährleistet, dass sie ihre jeweilige Expertise zielgerichtet zu ihrem Kompetenzbereich einbringen konnten.
Das Forschungsteam hat sich der menschzentrierten Forschung verschrieben und deshalb aufbauend auf den Ergebnissen der ersten Welle über ein Clustering für die zweite Befragungseinheit fünf Dimensionen identifiziert, die übergeordnete Ableitungen über die drei zentralen Lebensbereiche hinweg ermöglichen und die ebenfalls durch die ExpertInnen einzuschätzen waren. Der Begriff Dimensionen kann dabei synonym zu Potentialen, Chancen oder auch Herausforderungen verstanden werden:
Mit diesen fünf Dimensionen gelingt es zu beschreiben, wie weitreichend KI in alle (Lebens-)Bereiche und Fachrichtungen vordringen wird und weshalb die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit den anstehenden Veränderungen umso wichtiger werden wird.
All in …
Im Ergebnis wird deutlich, dass wir insbesondere den politischen Entscheidern aufzeigen sollten, dass künstliche Intelligenz sowohl in der Wirtschaft wie auch in der Gesellschaft nicht als dystopisches und unheilvolles Konstrukt gesehen wird, sondern vielmehr Möglichkeiten und Chancen schafft, die uns ein nie zuvor da gewesenes Maß an Eigenverantwortung und Gestaltungsspielraum eröffnen. Wir zeigen mit der Studie einen proaktiven und positiven Umgang mit der sich weiterentwickelnden KI auf und binden bei unseren Empfehlungen das vorhandene Potential in Wissenschaft, Technik und Recht ein, um so eine bessere, nachhaltige Gesellschaft gestalten zu können. Mutig, manchmal unerwartet aber jederzeit mit dem Menschen im Fokus.
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