…Fortsetzung: Zu Teil 1/2

Der nachfolgende Text entstand im Jahr 1995. Er erschien zuerst in dem umfangreichen Standardwerk: „Neue Organisationsformen im Unternehmen – Handbuch für das moderne Management“ von H.-J. Bullinger / H.-J. Warnecke (Hrsg.) im Springer-Verlag, 1996. Die Tatsache, dass er auch nach einem Vierteljahrhundert noch nichts an Aktualität eingebüßt hat, zeigt indirekt, wie zählebig hierzulande manche Strukturen und Verhaltensmuster sind.

6 Das Ende des Jobs

William Bridges, den das Wall Street Journal zu den zehn einflußreichsten Beratern der US-Wirtschaft zählt, zieht weitreichende Schlußfolgerungen aus diesen Entwicklungen und prognostiziert in seinem Buch ,Job Shift’ das allmähliche Ende der konventionellen Arbeitsplätze und der Manager alter Art: „Die moderne Welt steht vor einer ungeheuren Umwälzung, vor einem ungeheuren Kreativitäts- und Produktivitätssprung. Aber der Job, der sozial und rechtlich abgesicherte Arbeitsplatz, wird nicht länger Teil dieser neuen wirtschaftlichen Realität sein. Zwar wird es auch dann ungeheure Mengen von Arbeit geben, aber sie wird nicht länger fein säuberlich aufgeteilt und abgepackt als Kästchen im Unternehmensorganigramm aufgeführt werden“. Bridges konstatiert lakonisch: „Der Kampf um den Erhalt fester Arbeitsplätze ist so sinnlos wie ein Kampf um die Deckstühle auf der Titanic“, und rät: „Machen Sie sich selbständig solange sie noch den Zeitpunkt Ihres Ausscheidens aus dem konventionellen Arbeitsverhältnis selbst bestimmen können“ [10].

Ganz ähnlich konnte man kürzlich unter der Überschrift: ,Der Tod des Jobs’ im englischen Independent lesen: „Wir alle sind abhängig von Arbeitsplätzen, von Jobs. Aber diese Abhängigkeit ist historisch erst sehr jung. Jetzt verändert der globale Markt die Arbeit und wir müssen uns von den Gewohnheiten des Jobsystems verabschieden … wir werden bald spüren, daß Arbeitsplätze nicht zur natürlichen Umwelt gehören wie Bäume oder Wasser.“

Ganz sicher werden nicht so bald alle Jobs, alle festen  Arbeitsverhältnisse verschwinden. Aber es werden in Zukunft mehr grundverschiedene Arten von Arbeit nebeneinander existieren. Der Trendforscher Matthias Horx unterscheidet zwischen ‚Old Work’ und ‚New Work’. Die alte Arbeit in Gestalt traditioneller Arbeitsplätze mit garantierten Löhnen, festen Stellenbeschreibungen, vorhersehbaren Routineabläufen und austauschbaren Arbeitsplatzinhabern wird nach wie vor existieren, sie wird vermutlich aber deutlich schlechter bezahlt werden als heute.

7 Die selbstangestellten ,Telecommuter’

In der neuen Form der Arbeit, der ,New Work’, machen sich die arbeitenden Menschen vor allem die Tatsache zunutze, daß moderne Informationstechnik es ihnen ermöglicht, viele Einengungen durch die Anforderungen der industriellen Massenproduktion abzulegen und ihr Leben wesentlich selbständiger zu gestalten. Im post-industriellen Zeitalter rückt das Interesse an einem selbstbestimmten Leben in der Werteskala der Menschen weit nach oben. Die Arbeitswelt von morgen wird mehr und mehr durch eine Generation geprägt, deren Formel etwa lautet: „Leistung nicht (nur) gegen Geld, sondern gegen Sinn.“

Firmen, deren Arbeitsstrukturen größere Flexibilität und Komplexität bieten, werden künftig die besten Mitarbeiter anziehen. Damit wird erneut deutlich, was wir schon ahnten: Reine Rationalisierung hilft keinem Unternehmen aus der Krise.

Zugleich werden immer mehr Menschen erkennen, daß der ,sichere Arbeitsplatz’ ohnehin ein Mythos war und ist; Sicherheit gibt es auch bei einer Anstellung in einem Großunternehmen nicht. Diese Einsicht bringt manch einen dazu, die Sicherheit seiner wirtschaftlichen Existenz zu seiner eigenen Sache zu machen, statt sich der Weisheit und Voraussicht des Managements oder Politikern anzuvertrauen. So ist es kein Wunder, wie Peter Fischer in seinem Buch: ,Die Selbständigen von morgen’ schreibt, daß diejenigen, „die man treffender auch als Selbstangestellte bezeichnen könnte, weil sie meistens ihre einzigen Mitarbeiter sind … schon heute der am stärksten wachsende Wirtschaftsbereich überhaupt sind“ [11].

Neue Techniken machen neue Siedlungs-, Umgangs- und Lebensformen möglich. War die Verstädterung ein Produkt des industriellen Zeitalters, weil die Industrieproduktion erforderte, daß der Produktionsfaktor Mensch zu den Produktionsstätten kam, so transportiert die moderne Kommunikationsgesellschaft den Produktionsfaktor Information zu den Menschen, die zukünftig ihre Arbeitsstätte zu Hause haben werden.

Weil es einfach nicht sinnvoll ist, täglich zwei Stunden oder mehr damit zu verbringen, an einen Arbeitsplatz zu pilgern und dort eine Arbeit zu erledigen, die auch am Wohnort hätte getan werden können, wird die neue Arbeitsform – als Selbstangestellter von seiner Wohnung aus zu arbeiten – wahrscheinlich in den nächsten Jahrzehnten die übliche Arbeitsweise werden. Ihr Kennzeichen ist, daß sie wesentlich stärker auf Kooperation aufbaut und sich damit erheblich von der typischen Organisationsweise der industriellen Produktion unterscheidet, die durch Hierarchien und Durchsetzung von Zielen und Methoden von oben nach unten gekennzeichnet ist.

Wird der Weg zur Arbeit immer häufiger nicht auf der Straße, sondern auf dem ,Information-Highway’ zurückgelegt, bewegen sich auch immer mehr Arbeitnehmer in einer Grauzone zwischen Abhängigkeit und Selbständigkeit. Problematisch wird dies vor allem dann, wenn Menschen in eine scheinbare Selbständigkeit gedrängt werden, nur um Sozialabgaben einzusparen – klar, daß dies als Gefährdung unseres Sozialsystems strikt abzulehnen ist. Andererseits sollte man sich aber auch davor hüten, die immer zahlreicheren neuen ,Selbstangestellten’ durchweg als Scheinselbständige einzustufen und generell zur Problemgruppe zu erklären. Problemgruppen sind nach Ansicht der Autoren des Klassikers: ,Das Virtuelle Unternehmen’, William Davidow und Michael Malone [9], nicht Menschen, die neue, zukunftsträchtige Wege beschreiten, sondern eher Politiker und Wissenschaftler, die an überholten Organisationsmustern und Institutionen festhalten.

In diesem Sinne wird zur wohl bedeutsamsten Problemgruppe von morgen das Management selbst. Denn mittlerweile kehren sich die Rollen und Verhältnisse mehr und mehr um; waren früher oftmals Arbeitnehmer und Gewerkschaften die hartnäckigsten Gegner neuartiger Arbeitsweisen, so führen inzwischen moderne Arbeitsformen bei uns vor allem deshalb noch immer ein Schattendasein, weil veraltete innovationsfeindliche Managementmethoden den Wandel behindern. Während einerseits immer mehr Beschäftigte die Freiheiten schätzen lernen, die ihnen neue Arbeitsformen eröffnen, fürchten andererseits immer mehr Manager den damit einhergehenden Verlust an Macht und Sozialprestige. Hierarchische Strukturen, autoritärer Führungsstil, Mißtrauen, allgegenwärtige Kontrolle sind bei Telearbeit nun einmal nicht drin.

Manager, die Anwesenheit mit Produktivität verwechseln und die den Verzicht auf Anwesenheitspflichten als Statusverlust empfinden, haben sich ebenso überlebt wie quasimilitärische Organisationsformen.

Charles Handy, prominenter Sozialphilosoph und Managementberater, schildert in seinem Buch ,Die Fortschrittsfalle’ eine charakteristische Episode: Auf die Frage, warum eine Journalistin, die erkennbar unter den chaotischen Zuständen ihrer Redaktion litt, nicht einfach von zu Hause arbeitete, entgegnete sie: „Die lassen mich nicht“ – sie zeigte auf zwei große Glasscheiben, hinter denen zwei Chefredakteure saßen.

„Die verlangen, daß sie mich sehen und anschreien können.“ Handy weiter: „Diese Leute werden wohl eines Tages dahinterkommen, daß ein Büro, auch wenn es eine Nachrichtenredaktion ist, nicht wie eine Fabrik aussehen muß, und daß die Gebäudekosten mitten in Atlanta zu hoch sind, nur um jemanden sehen und ihn anschreien zu können … Diese Büros mit den persönlichen Schreibtischen werden nach und nach verschwinden und mit ihnen eine ganze Lebensart. Ihr Verschwinden werden viele beklagen, aber nostalgische Gefühle gelten in dem neuen Zeitalter (in dem nur für das Produkt, nicht für die Zeit bezahlt wird) nicht viel“ [12].

Wie immer, so hat auch diese Entwicklung ihre zwei Seiten. Auf der einen Seite verbindet sich in den neuen Arbeitsformen ein hohes Maß an Eigeninitiative – manche würden es auch Selbstausbeutung nennen – mit großen individuellen Freiheiten. Demgegenüber steht die Tatsache, daß sich diese Konzepte natürlich vor allem für dynamische, qualifizierte und meist auch junge Menschen eignen. Wer ­– aus welchen Gründen auch immer – mit dem hohen Tempo nicht (mehr) mithalten kann, wer den rasch wechselnden Anforderungen nicht gewachsen ist, der fällt schnell durchs Raster und findet sich dann nicht selten bei den ,Working Poor’ wieder, wie sie etwa in den USA heute die andere Seite der Medaille bilden.

Besonders klar brachte Andreas Zielcke in seinem FAZ-Beitrag „Der neue Doppelgänger“ das Kernproblem auf den Punkt: „Die massenhafte Metamorphose von Arbeitnehmern zu Unternehmern ist bereits in vollem Gange … damit ist kein Rückfall in den wilden Westen des Frühkapitalismus verbunden. Der jetzige Kapitalismus wendet eine wesentliche schlauere, komplexere und zynischere Verwertungsmethode an, als es sich seine vergleichsweise plumpen Gründerväter je vorstellen konnten. Der frühe Kapitalismus war auf Ausbeutung von Arbeit, der heutige ist auf Ausbeutung von Verantwortung ausgelegt. Früher mußten die Kollegen den Arbeitsgegenstand, jetzt müssen sie das Betriebsergebnis mitgestalten. Früher mußten sie nur mitarbeiten, jetzt müssen sie mitdenken und mitzittern … Letztlich wird die historische Differenz von Kapital und Arbeit mit allen Vorteilen und allen Qualen in die Arbeitnehmer hineinverlagert“ [13].

8 Schwindendes Fundament

In einer Welt globalen Wettbewerbs und sich stetig verschärfender Innovationsdynamik – mag man sie nun begrüßen oder fürchten – müssen fraglos auch die Arbeitnehmerorganisationen ihre Rolle überdenken und ein neues Selbstverständnis entwickeln. Überall dort, wo sich die alten Definitionen von Arbeit auflösen, verlieren Menschen auch das Bedürfnis nach Gewerkschaften alter Art. Gleichwohl erwächst ein neuer Bedarf nach neuen Sachwaltern, nach neuer Art von Unterstützung und neuen Ratgebern. Statt also weiterhin „um die Deckstühle auf der Titanic“ zu kämpfen, wie William Bridges das Bemühen um den Erhalt alter Arbeitsplätze und Strukturen nennt, erscheint eine aktive Vorwärtsstrategie ungleich aussichtsreicher.

In einer Lage, deren Brisanz vielerorts noch unterschätzt wird, müssen sich auch und gerade Gewerkschaften verstärkt konstruktiv und kompetent um die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zukunft kümmern. Bildung und Qualifikation, Innovation und Technologie, Unternehmenskultur und Managementkonzepte sind nur einige der Schlüsselthemen, von denen unsere wirtschaftliche und soziale Zukunft abhängt. Hingegen hat die verbreitete einseitige Fixierung auf die (traditionelle) Tarifpolitik durchaus etwas scheuklappenhaftes, denn diese greift viel zu kurz. Um es in einem Bild zu sagen:

Wir werden uns nicht weiterhin damit begnügen können, das geerntete Korn möglichst gerecht zu verteilen, wir werden uns vielmehr verstärkt darum bemühen müssen, daß auch genügend Getreide nachwächst.

Rund achtzig Prozent der dringend benötigten neuen Arbeitsplätze entstehen – einer Untersuchung der EU zufolge – heute in Klein- und Kleinstunternehmen der Dienstleistungs- und Informationsbranche, also vor allem bei künftigen Anliegern der Infobahnen. Schon heute ist Informationsverarbeitung bei uns der wichtigste Wirtschaftssektor – laut Bundesanstalt für Arbeit arbeitet hier bereits rund die Hälfte aller Erwerbstätigen.

Schaut man sich hingegen die Ressortzuschnitte und die Kompetenzverteilung in den Industriegewerkschaften an, so wird schnell offenbar, daß der überwiegende Teil der hauptamtlichen Funktionäre für einen immer kleineren Teil der Beschäftigten (nicht Mitglieder!) zuständig ist. Man konzentriert sich auf klassische Industrien und Arbeitsformen, die mehr und mehr verschwinden, man klammert sich an Themen fest, die aus vielerlei Gründen rapide an Bedeutung verlieren. Ungleich perspektivenreicher sind demgegenüber vorwärtsweisende Ansätze, wie sie etwa schon Ende der 70er Jahre in Gestalt der gewerkschaftlichen Innovations-Beratungsstellen bestanden, mit deren Hilfe die Strategie eines aktiven Strukturwandels in ganz konkrete Gestaltungsmaßnahmen übersetzt wurde (die allerdings leider zwischenzeitlich weitgehend eingestellt wurden).

9 Verteidigungsorganisation für Absteiger?

Auch für die Gewerkschaften spielt die Informatikbranche in vielerlei Hinsicht eine aufschlußreiche Vorreiterrolle. Manche Probleme, mit denen Arbeitnehmerorganisationen künftig auch in anderen Sektoren konfrontiert sein werden, zeigen sich hier, bereits heute, recht deutlich. So sollte es nachdenklich stimmen, wenn man feststellt, daß Beschäftigte in der Computerindustrie allenfalls bei den vom Niedergang bedrohten (Alt-)Firmen in nennenswertem Maße gewerkschaftlich organisiert sind. Die Beschäftigten des von wirtschaftlichen Problemen gebeutelten Computerherstellers Digital Equipment liefern hierfür ein anschauliches Beispiel:

Erst als Massenentlassungen und der erste Branchenstreik vor der Tür standen, stieg deren Organisationsgrad beträchtlich. Andererseits haben Gewerkschaften bei den erfolgreichen Newcomern der Branche bislang nur wenig Erfolge zu vermelden. Auf Dauer kann diese Einseitigkeit kaum gutgehen. Sollte sich ein ,Underdog-Image’ verfestigen, nach dem Gewerkschaften lediglich als Verteidigungsorganisationen für soziale Absteiger oder als eine Art Versicherungsverein wahrgenommen werden, verlieren sie für einen wachsenden Teil der Erwerbstätigen zwangsläufig an Attraktivität. Organisationen, die sich darauf beschränken, mit immer neuen Kassandrarufen tatsächliche oder vermeintliche Fehlentwicklungen zu beschwören, laufen Gefahr, am Ende nur noch für diejenigen interessant zu sein, die von einer Weiterentwicklung der betrieblichen Prozesse keinerlei Vorteile zu erwarten haben.

10 Gewerkschaften als Dienstleister

Wenn sich die Prognosen von Bridges und anderen hinsichtlich der tiefgreifenden Transformation von Arbeit in der westlichen Welt bewahrheiten – und hierfür spricht einiges –, so wird zukünftig ein völlig neuer Typus von Arbeitnehmer dominieren: „Der neue Arbeitnehmer gehört weder zum Proletariat noch zur Arbeiterklasse. Er ist vielmehr Träger von speziellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, ohne dabei auf eine bestimmte Arbeitsstelle festgelegt zu sein, ohne klar fixierte Arbeits(platz)identität.“ Der mehr fachbezogen als arbeitsplatzbezogen Arbeitende von morgen brauche „keine Institution, die für eine große Gruppe von unterschiedlich qualifizierten Kollegen kollektive Tarifverhandlungen führt, sondern berufsbezogene Informationen und Fortbildungsmaßnahmen, er muß seine Erfahrungen mit Menschen in seiner Berufsgruppe austauschen können. Dafür muß es Berufsverbände geben, die eher den mittelalterlichen Zünften ähneln als den Gewerkschaften der vergangenen 140 Jahre“ [10].

Auch wenn man so weit nicht gehen mag – neben den ,Freelancern’ wird es auch künftig in vielen Bereichen noch große Gruppen abhängig Beschäftigter herkömmlicher Art geben – so zeichnet sich schon heute eine wachsende Fragmentierung und Differenzierung in der Arbeitswelt ab; Anstellungs- und Arbeitsbedingungen werden in Zukunft mehr und mehr für jede Situation maßgeschneidert werden. Mit anderen Worten: kollektive Verhandlungen und pauschale Regelungen verlieren zugunsten individueller und flexiblerer Alternativen tendenziell an Bedeutung. Auch für die Gewerkschaften geht die Zeit der klassischen Politikmuster mit zentral verkündeten großen Lösungen zu Ende, auch hier geht der Trend zu einem an den speziellen Bedürfnissen einzelner ,Kundengruppen’ orientierten hochdifferenzierten Unterstützungsangebot, das vor Ort Einfühlungsvermögen, Sachkompetenz und vor allem Flexibilität erfordert.

Der damit verbundene Rollenwechsel – vom politisch autoritären Oberlehrer zum (gewiß nicht unpolitischen) Dienstleister – ist ein konfliktträchtiger Prozeß; noch ist ,Kundenorientierung’ ein Reizwort, das bei manchen traditionell orientierten Funktionären heftigen Widerspruch auslösen kann.

Untergründig wächst die Polarisierung zwischen denen, die zurück wollen zu den alten Konzepten, und denen, die etwas Neues anstreben, die voran wollen.

Gewerkschaften von morgen werden als Dienstleistungsorganisationen einiges mit heutigen Berufsverbänden gemein haben, in denen sich beispielsweise Rechtsanwälte, Lehrer oder Journalisten zusammenschließen, um ihre gemeinsamen Interessen zu fördern. Auch in Zukunft brauchen Arbeitnehmer berufsfachliche Kommunikation und den Erfahrungsaustausch mit Menschen ihrer Berufsgruppen auf professionellem Niveau. Gewerkschaften von morgen werden deshalb vor allem auch Bildungsinstitutionen sein, mit deren Hilfe Beschäftigte sich qualifizieren und fortbilden können, wenn ihre Arbeit sie mit neuen Anforderungen konfrontiert. Mit der Unterstützung ihrer Organisationen können sich Gewerkschaftsmitglieder frühzeitig über technologische Entwicklungstrends ihres Arbeitsgebietes und über Bereiche mit Zukunftschancen informieren. Und natürlich können derartige Fortbildungsmaßnahmen auch Arbeitslosen helfen, wieder Beschäftigung zu erhalten.

Gewerkschaften von morgen werden vor allem Quellen für beratende Unterstützung sein, mitunter vielleicht einer ,User-Group’ ähnlicher als einer traditionellen Arbeitnehmerorganisation. Manchmal wird die Beratung fachlich-technischen Inhalts sein, z.B. bei der Auswahl oder Bewertung einer Software für eine bestimmte Arbeit oder beim Verschaffen eines Überblicks über Ausbildungs­möglichkeiten, Fallstudien und ähnliches. In anderen Fällen werden sich Beratungen mehr auf betriebliche oder rechtliche Fragen konzentrieren, etwa auf Fragen der Vertragsgestaltung, der Vermittlung in Konfliktfallen oder bei der vergleichenden Bewertung von Versicherungen oder Rentensystemen.

Thomas W. Malone vom MIT, ein einflußreicher Vordenker der Informationsgesellschaft, zeichnete kürzlich auf einer Konferenz [14] sogar ein Bild von ,Full-Service-Unions’ , die ähnlich wie manche heutige Künstler- und Schauspieler-Verbände oder Künstler-Sozialkassen, weitaus vielfaltigere und umfassendere Dienstleistungen zur sozialen Absicherung und Unterstützung ihrer Mitglieder erbringen als es Gewerkschaften derzeit tun.

Finanzielle Absicherung für Zeiten ohne Auftrag oder bei Krankheit usw. ist hierbei nur eine der denkbaren vielfältigen Leistungen.

Malone machte auch deutlich, daß sich mit dem allmählichen Verschwinden der industrie­gesellschaftlichen Form kollektiver Arbeit und mit der Verschiebung sozialer Bezüge aus dem Arbeitsplatz in die übrige Lebenssphäre neue Formen gemeinschaftsorientierten Handelns entwickeln werden. Wenn der Betrieb als für viele Menschen wichtige Quelle der Identitätsstiftung, als ein Ort der Bildung von Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft allmählich verschwindet, gilt es, neue Formen für diese ungemein wichtigen Lebenselemente zu entwickeln. Hierbei könnte gewandelten Gewerkschaften eine Schlüsselrolle zukommen – auch dann, wenn soziale Integration wieder überwiegend außerhalb der Erwerbsarbeit erfolgen sollte. Denn nicht zuletzt könnten die Gewerkschaften von morgen Gemeinschaften von Menschen sein, in denen diese – unabhängig von ihrer jeweiligen Arbeitsplatzzugehörigkeit – Freunde, Kollegen und ein Stück Heimat finden. Vor allem die lokalen Einrichtungen der Gewerkschaften können so dazu beitragen, daß Menschen mit ähnlichen beruflichen, technischen oder geschäftlichen Orientierungen miteinander in Kontakt bleiben.

Insgesamt gesehen werden Gewerkschaften von morgen also weniger reine Interessenvertretungen als vielmehr Dialog-Plattformen sein in denen nicht nur abhängig Beschäftigte, sondern alle die in Beschäftigung stehen oder nach Beschäftigung suchen, ein Forum finden, um neue gesellschaftliche Ideen auszutauschen, zu bündeln und deren Verbreitung zu organisieren.

11 Gewerkschaften @ lnfobahn

Wenn mit zunehmender Individualisierung der Gesellschaft auch Gewerkschaften verstärkt individuelle Dienstleistungen anbieten müssen, verschärft sich allerdings das Mengenproblem, unter dem die Organisationen schon heute leiden: Wie lassen sich mit vermutlich künftig noch weniger ,Hauptamtlichen’ zahlenmäßig dramatisch wachsende Mengen individueller Anforderungen befriedigen? In dem Maß, in dem die Möglichkeiten, via Großbetrieb(srat) zahlreiche Mitglieder gleichzeitig zu erreichen, zusehends schwinden, müssen für das Mengenproblem neue Lösungen erarbeitet werden.

Hier eröffnet moderne Informationstechnik hervorragende Möglichkeiten, ,Online-Services’ aller Art anzubieten und Netzwerke zwischen Beschäftigten zu organisieren, um so neue Formen von Kollektivität zu verwirklichen. Beratungsleistungen via Internet und E-mail gehören für viele Unternehmen schon längst zum Alltag, hier können sich Gewerkschaften durchaus einige Scheiben abschneiden. Wenn aus Betrieben in Gestalt ,Virtueller Unternehmen’ Netzwerke werden, gibt es vielleicht eines Tages neben Betriebsräten auch so etwas wie ,Netzräte’. Nicht zuletzt einige US-amerikanische Gewerkschaften machen uns vor, wie gut sich Netze nutzen lassen, um blitzschnell höchst wirkungsvolle Streiks zu organisieren – die virtuellen Streiklokale beim Arbeitskampf in großen amerikanischen Zeitungsverlagen (San Francisco Chronicle, Detroit News u.a.) und die flugs entwickelte FreePress erreichten via Internet in kürzester Zeit zigtausende von Adressaten. Internet-Zugriffs- statistiken und Wachstumsraten belegen, daß über elektronische Netze binnen kurzer Zeit phänomenal viele Menschen erreicht werden können. Es gilt also, diese Spielräume für eine neue Beweglichkeit offensiv zu nutzen;

möglicherweise entpuppt sich eines Tages das Netz als wirkungsvollstes Mittel, um Mitglieder zu organisieren.

In wachsender Zahl erkennen Betriebsräte die Vorteile eines raschen, unbürokratischen Informationsaustauschs über elektronische Netzwerke und nutzen vermehrt derartige technische Hilfsmittel zur inner- und überbetrieblichen Kommunikation. Gerade solche Beispiele zeigen, daß viele Gewerkschaften mit ihrer zumeist anachronistischen technischen Infrastruktur mehr und mehr Gefahr laufen, im doppelten Sinne den Anschluß an ihre eigene Klientel zu verlieren. Denn durch die Zwänge, die auf den Unternehmen lasten, entwickeln sich Betriebsräte heute oftmals schneller als die Organisation. Wenn die ,Kinder’ sich aber schneller als die ,Schule’ oder die ,Lehrer’ entwickeln, verliert die Institution rasch jegliche Attraktivität – dem gilt es vorzubeugen.

Mit dem Heranwachsen der ,Nintendo-Generation’ nimmt der Anteil der Bevölkerung mit guter Ausbildung und Erfahrungen im Umgang mit Computern in den nächsten Jahren stark zu. Um sie gewinnen zu können, sind Organisationen nötig, deren Funktionäre (selbst dieser Begriff klingt da schon seltsam antiquiert) die gleiche Sprache sprechen wie diese und die deren Arbeitsweise und Probleme aus eigener Erfahrung kennen. Althergebrachte Ansätze zur Mitgliedergewinnung und Imageveränderung, wie Werbegeschenke oder ein neues Logo, reichen nicht, um für diese neue Arbeitnehmergeneration Attraktivität zu gewinnen. Heute und in Zukunft brauchen Gewerkschaften vor allem eines: Vor Ort Leistungsträger, die über den Sachverstand verfügen, der nötig ist, um konkrete Unterstützung leisten und Prozesse verständnisvoll moderieren zu können und die sich in die Kultur der Angestellten einfühlen können.

12 Abschaffung der ,Lähmschicht’, Teams statt Fürstentümer

Die raschen Veränderungen in der Arbeitswelt erfordern von allen Organisationen wachsende Flexibilität. Hier geht es den Gewerkschaften nicht anders als den Unternehmen, die um Marktanteile kämpfen müssen. Und so liegt es auf der Hand, daß sich viele der in Unternehmen erfolgreich angewandten Konzepte zur organisatorischen Modernisierung durchaus auf Arbeitnehmerorganisationen übertragen lassen. Statt weiterhin schwerfällige hierarchisch-bürokratische Strukturen und Abläufe zu pflegen, sind auch die Gewerkschaften gut beraten, wenn sie in ihrem Inneren die Entscheidungskompetenz wieder dorthin verlagern, wo auch die Sachkompetenz sitzt – und das ist vor allem dort, wo der unmittelbare ,Kundenkontakt’ besteht, und nicht auf höheren Hierarchieebenen der Verwaltungen oder Vorstandsetagen. Auf jeden Fall müssen die heute existierenden zahllosen kleinen Fürstentümer modernen Teams weichen, in denen sich Autorität auf Leistung und nicht auf eine einmal erworbene Position stützt.

Eine der vordringlichsten Aufgaben der Gewerkschaften ist es deshalb, rasch und radikal ihre hierarchietypischen ,Lähmschichten’ und Verwaltungswasserköpfe aufzulösen, die über Jahre und Jahrzehnte jede innovative Veränderung hartnäckig behinderten und oft auch verhinderten, weil in ihnen die Ja-Sager, Bedenkenträger und Informationsfilter herrschen, deren Loyalität sich mehr auf den jeweiligen Vorgesetzten richtet als auf die Organisation. Es gilt, von modern geführten Unternehmen zu lernen, die insbesondere die verheerenden Wirkungen der mittleren Managementebenen und der überkommenen Abteilungsgliederung schon früher erkannt und diese vielfach radikal abgeschafft haben – von Fragen zeitgemäßer Unternehmenskultur ganz zu schweigen.

Organisationen, die den Anspruch haben, gesellschaftliche Veränderungen nicht nur zu beobachten, sondern aktiv mitzugestalten, müssen vor allem eines tun: eine Kultur des Wandels bei sich selbst etablieren. Entscheidend hierbei ist das großzügige Zulassen von interner Vielfalt, das beständige Tolerieren und Integrieren auch von Meinungen und Personen, die dem jeweiligen ,Mainstream’ widersprechen.

Organisationen müssen offen sein, damit sie sich verändern können.

Nicht zuletzt müssen Organisationen, die in einer Informationsgesellschaft überleben wollen, in ihrem Inneren den fatalen Mißbrauch von Informationen als Machtmittel beenden – hierin liegt eine der zentralen Ursachen für mangelnde institutionelle Lernfähigkeit. Wenn die Arbeitnehmer­organisationen sich nicht zügig ihrer überkommenen, vom tayloristischen Fabriksystem geprägten Organisationskultur – Kennzeichen: Machtausübung durch Informationszurückhaltung – entledigen bzw. sie durch eine zeitgemäße, offene Vertrauenskultur ersetzen, laufen sie Gefahr, als Bestandteil der auslaufenden industriellen Epoche auch mit dieser ihre Bedeutung zu verlieren.

Mit dem hier lediglich in einigen Facetten angedeuteten Wandel des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses in Richtung einer offenen, flexiblen und auf hohem professionellen Niveau arbeitenden Dienstleistungsorganisation soll nicht gesagt sein, daß in Zukunft die Notwendigkeit zu politischer Orientierung und Organisation entfällt. Im Gegenteil, es spricht so manches für die Annahme, daß mit dem Strukturwandel die Ungerechtigkeiten in der Welt, die Gegensätze zwischen arm und reich, noch dramatisch zunehmen werden. Auch in Zukunft brauchen viele Menschen Unterstützung und Organisationen – aber morgen eben andere als gestern.

Link zu Teil (1/2): Von der ,Kaderschmiede’ zur ,Full-Service-Union’ (1/2) – Zukunft der Arbeit


Literatur
[10] Bridges, William: Job Shift. Reading, Mass. u.a. 1994.
[11] Fischer, Peter: Die Selbständigen von morgen. Frankfurt a.M./New York 1995.
[12] Handy, Charles: Die Fortschrittsfalle. Wiesbaden 1995, S. 169.
[13] Zielcke, Andreas: ,Der neue Doppelgänger’. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Juli 1996.
[14] Malone, Thomas W.: ,Small Companies – Large Networks?’. Vortrag auf der Konferenz: ‚Treffpunkt@rbeit’, Frankfurt 1996.

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