Der nachfolgende Text entstand im Jahr 1995. Er erschien zuerst in dem umfangreichen Standardwerk: „Neue Organisationsformen im Unternehmen – Handbuch für das moderne Management“ von H.-J. Bullinger / H.-J. Warnecke (Hrsg.) im Springer-Verlag, 1996. Bei der Lektüre sollte man sich vergegenwärtigen, dass zu jener Zeit das Internet in vielen Organisationen und Institutionen entweder unbekannt oder umstritten war. Beispielsweise machten ‚Bündnis ’90/Die Grünen‘, nachdem sie jahrelang Computer, ISDN usw. verweigert und bekämpft hatten, in diesem Jahr im Pilotprojekt: ‚Abgeordnete im Internet’ des Deutschen Bundestags mit einem einzigen (!) MdB (Cem Özdemir) ihre allerersten zaghaften Gehversuche in der neuen Online-Welt. Mehrheitlich lehnten grüne Abgeordnete auch noch in der Folgezeit „Computer als Flucht aus der direkten Kommunikation, als Entsinnlichung, Standardisierung und Jobkiller, der besonders Frauen verdränge“ grundlegend ab. Ganz ähnlich verhielt es sich auch bei den Gewerkschaften, die erst Jahre später begannen, eigene und anfänglich noch sehr unbeholfene Web-Präsenzen zu realisieren. Manches von diesem Kulturpessimismus hat in Teilen unserer Gesellschaft bis heute überdauert und zu dem gravierenden Rückstand Deutschlands beigetragen, der spätestens in der Pandemiekrise unübersehbar wurde.

Heute, ein Vierteljahrhundert später, haben auch die Gewerkschaften nach vielen Irrwegen und kostspieligen Sackgassen technisch den Anschluss an die Online-Welt einigermaßen erfolgreich bewältigt. Aber organisatorisch und organisationskulturell sind sie noch immer der alten Arbeitswelt verhaftet, da sie mehrheitlich die wesentlichen Information Rules (Carl Shapiro, Hal Varian, Kevin Kelly 1999), die uns in eine Welt transformieren, in der ‚Arbeit’ allmählich neu definiert wird, noch nicht verstanden haben. Offenkundig wird dieses Defizit vor allem dort, wo die Arbeitsstrukturen und ‑prozesse in ihren Verwaltungseinheiten selbst noch immer an (alt-)industriellen Mustern orientiert sind. Dadurch und durch die meist unreflektierte Übernahme der von geschäftstüchtigen Consultants lancierten oberflächlichen und bisweilen unsinnigen Modewortschöpfungen wie ‚Digitale Arbeit’, ‚Cloudwork’, ‚Clickwork’‚ ‚Crowdwork’, ,Amazonisierung’, ‚Digitale Disruption’, ‚Industrie 4.0‘ usw. haben sich Gewerkschaften den Blick auf tiefer gehende Implikationen der bislang bedeutsamsten Technologie des 21. Jahrhunderts in Gestalt fundamentaler ökonomischer, sozialer und kultureller Wandlungsprozesse bislang verstellen lassen (siehe hierzu auch Beitragsreihe Arbeit wird neu definiert).

Die heutigen Bemühungen der Gewerkschaften, durch Regulierungselemente aus der Palette tradierter, industriegesellschaftlicher Ansätze – von der Arbeitsrechts-, über Betriebsrats- und Tarif- bis hin zur Zeit-Politik – diesen Wandel, bzw. die ‚Gute Arbeit’ der Zukunft ‚menschengerecht’ zu gestalten, behandeln die Probleme meist nur oberflächlich und reaktiv lediglich auf der Symptomebene. Man versucht, in den Brunnen gefallene Kinder zu retten, statt sich an einer intelligenteren Gestaltung von Brunnen zu beteiligen – was allerdings technische Gestaltungskompetenz voraussetzt, derer sich die Gewerkschaften in den 90er Jahren weitgehend entledigt haben. Insofern haben einige Beiträge der Internet-Pioniere aus den frühen 1990er Jahren oft erheblich mehr Tiefgang als vieles, was derzeit bei uns zu diesem Themenkomplex diskutiert wird. Auch deshalb ist der nachfolgende Text im Großen und Ganzen noch immer aktuell. Er wird hier in der leicht aktualisierten Fassung wiedergegeben, die 1997 in dem Band „Schöne neue Arbeit“ von J. Krämer u.a. (Hrsg.), Talheimer-Verlag, erschienen ist (Original hier)


Strukturwandel in der Arbeitswelt und Rollenwandel der Gewerkschaften

Ein paradigmatischer Wandel in der Arbeitswelt zwingt die Gewerkschaften, ihre Rolle und ihr Selbstverständnis zu überdenken. Mitgliederschwund und Nachwuchsmangel zeigen, daß auch die Arbeitnehmerorganisationen vor neuen Herausforderungen stehen. Statt großflächig wirksamer, kollektiver Regelungen werden in Zukunft verstärkt flexible, stärker die individuellen Bedürfnisse des einzelnen Mitglieds berücksichtigende Dienstleistungen von den Gewerkschaften erwartet werden.

1 Politische Organisationen im Wertewandel

An der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert stehen zahlreiche Institutionen unserer Gesellschaft, so auch die Gewerkschaften, vor neuartigen Herausforderungen, die nicht mehr mit den Erfolgsrezepten der Vergangenheit zu bewältigen sind. Die Tendenz zu Individualisierung und Selbstverwirklichung, der Zerfall klassischer Milieus, eine zunehmende Vielfalt von Arbeits- und Lebenssituationen, der Übergang von der Normal- zur Wahlbiographie sind nur einige Facetten des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses, der (nicht nur) von Gewerkschaften ein verändertes Politikverständnis erzwingt. Viele Differenzen und Definitionen, die die klassische Industriegesellschaft bestimmten, werden hinfällig; Institutionen laufen Gefahr, zu bloßen Fassaden degradiert zu werden. Wie zahlreiche andere Organisationen (Parteien, Verbände, Vereine und Kirchen), so müssen sich auch die Gewerkschaften verstärkt auf Mitglieder als Individuen, aufwachsende Vielfalt, Komplexität, Dynamik und nicht zuletzt auf Unvorhersehbares einstellen. Es ist eine neue Aufgabe der Gewerkschaften, nicht nur die kollektiven Sicherungsinteressen, sondern auch die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten der einzelnen Arbeitnehmerinnen zu berücksichtigen [1].

Die Erkenntnis, daß der facettenreiche Übergang zu einer unübersichtlichen ‚Selbstgestaltungs­gesellschaft’ (Ulrich Beck) unter anderem einen Wandel von Organisationsstrukturen, Kommunikationsformen und Managementkonzepten erfordert, gehört in vielen Unternehmen längst zu den Binsenweisheiten. Immer öfter folgen dieser Erkenntnis auch Taten, die in der Summe tiefgreifende Veränderungen der Arbeitswelt zur Konsequenz haben. In einer neuen Arbeitskultur wächst ein neuer Typus von Arbeitnehmern heran, für den die klassische Gewerkschaftspolitik wenig Attraktivität besitzt.

Akuter Mitgliederschwund und unübersehbare Nachwuchsprobleme signalisieren in der Tat dramatische Attraktivitätseinbußen – allerdings sind auch Kirchen und große Parteien auf recht ähnliche Weise von einer sich ausbreitenden Bindungslosigkeit betroffen.

Keinesfalls läßt sich hieraus aber eine Tendenz zu allgemeiner Entpolitisierung oder Entsolidarisierung ableiten. Umfragen belegen, daß auch heute gerade junge Menschen sich selbstbewusst und demokratisch auf vielen Feldern engagieren und Organisationen wie ,Greenpeace’ oder ,Amnesty International’ durchaus ihre Unterstützung finden.

Wenn allerdings laut einer Emnid-Umfrage derzeit 64% der Jugendlichen ,Greenpeace’ für glaubwürdig halten, während nur noch 17% der Heranwachsenden den Gewerkschaften Glaubwürdigkeit zubilligen, so ist dies das eigentlich alarmierende Signal [2]. Hier deutet sich an, daß der gewerkschaftliche Nachwuchsmangel nicht nur eine Folge des gesellschaftlichen Wandels, sondern durchaus auch Konsequenz einer hausgemachten Ansehenskrise ist – ‚Neue Heimat’, ,Coop’ und ähnliche Fälle werfen lange Schatten.

Vor allem Jugendliche und qualifizierte Angestellte entwickeln heute kaum noch Interesse an Gewerkschaften; in diesen Bereichen sprechen die Entwicklungen eine besonders unmissverständliche Sprache. So schrumpfte der Anteil junger Gewerkschafter (< 25 Jahre) binnen einer Dekade um fast die Hälfte (1980: 17%; 1993: 9,7%). Und obgleich die ,White-Collar’-Beschäftigung längst klar dominiert (derzeit 71%), liegt der Angestelltenanteil im DGB unter 25% – die gewerkschaftliche Mitgliederstruktur entspricht also noch der Arbeitswelt der 50er Jahre [3].

Wobei die tatsächliche Situation noch prekärer ist als die Zahlen erkennen lassen, denn ein beträchtlicher Teil der gewerkschaftlich organisierten Angestellten stammt aus ehemals gewerblichen Bereichen – hier handelt es sich um einen stark dem klassischen Milieu ,Arbeiterschaft’ verhafteten Personenkreis, der nach dem Statuswechsel die Mitgliedschaft aus alter Verbundenheit beibehalten hat. Die anachronistische Mitgliederstruktur wiederum trägt zu einem Image (,Arbeitertraditionsverein’) bei, das sich kaum eignet, um Mitgliederpotentiale in Zukunftsfeldern zu erschließen. Jedenfalls verspüren heute unter den Nichtmitgliedern gerade noch 2% die Neigung, einer Arbeitnehmerorganisation beizutreten, während immerhin 72% eine Mitgliedschaft rigoros ausschließen [4].

Obwohl viele Funktionäre organisationsbezogene Modernisierungsprozesse in den Unternehmen seit Jahren verfolgen, sind diese an der Gewerkschaftsverwaltung – dem ,Apparat’ – bislang weitgehend spurlos vorübergegangen.

Vereinzelt unternommene Reformversuche verliefen zumeist im Sande. Als Reaktion auf die akute Krise werden mittlerweile hier und da erneut Projekte zur organisatorischen Modernisierung aufgelegt. Diese Versuche laufen jedoch Gefahr, die Organisationen noch tiefer in jene Misere zu führen, aus der man mit ihrer Hilfe gerade zu entkommen sucht. Dies nicht nur deshalb, weil mitunter bei den Initiatoren solcher Projekte auch die Hoffnung mitschwingt, auf eine solche Weise die beschwerliche Aufgabe der eigenen Veränderung an irgendein Projektteam delegieren zu können. Sondern auch und vor allem, weil angesichts der manifesten Finanzkrise als Folge des Mitgliederschwundes nun meist unter Zeitdruck versucht wird, Lösungen umzusetzen, bevor man überhaupt das Problem erkannt hat; es wird kuriert, ohne über eine brauchbare Diagnose zu verfügen. Denn gerade bei den aktuellen Reformversuchen offenbart sich das wohl schwerwiegendste Problem der Arbeitnehmerorganisationen: ihre ausgeprägte Schwäche, den eigenen Zustand zu thematisieren.

Die Selbstwahrnehmung der Gewerkschaften ist massiv gestört, weil eine Art Wagenburgmentalität offene Kommunikation und produktive Formen der Konfliktverarbeitung behindert. Ungeschminkte Analyse ist als ,Nestbeschmutzung’ strikt verpönt. Durch eine Beschwichtigungskultur mit vielfältigen Formen von Vergewisserungsritualen werden Gewerkschaften blind für gesellschaftliche Erosionsprozesse, in denen ihre Geschäftsgrundlage allmählich abhanden kommt.

Das Phänomen einer mangelnden Fähigkeit zur Selbstreflektion resultiert zu einem guten Teil aus Gründen, wie sie etwa Rudolf Wimmer auch in öffentlichen Verwaltungen diagnostizierte [5]. Ähnlich wie öffentliche Verwaltungen besitzen die Gewerkschaften für die allermeisten ihrer ,Produkte’ ein Monopol. Deshalb können Unzufriedenheiten mit ihrem Leistungsangebot organisationsintern lange Zeit ohne nennenswerte Resonanz bleiben. Auch haben sich im Lauf der Zeit intern immer mehr informelle Strukturen und Kooperationsmuster herausgebildet und verselbständigt, die Defizite der offiziellen Organisation kompensieren und einen wachsenden Teil der gegenwärtigen Gewerkschaftsaufgaben erledigen. Demgegenüber büßen Gremien, Abteilungen, Delegiertenkonferenzen und andere formelle Strukturen ihre Funktion mehr und mehr ein, da sie zu unflexibel sind, um auf rasche Veränderungen im Umfeld angemessen reagieren zu können.

Wenn Organisationen mitunter nur noch deshalb existieren, weil informelle Improvisation viele Schwächen der formellen Organisation ausbügelt, geraten sie allerdings in ein Dilemma. Denn informelle Aktivitäten tragen mit dazu bei, eben diese formellen Defizite zu konservieren, weil sie den äußeren Veränderungsdruck mildern. Informelle Beziehungsgeflechte profitieren von formellen Schwächen und werden im Lauf der Zeit immer einflußreicher und undurch- dringlicher. Sie tragen in einem quasi symbiotischen Verhältnis mit dazu bei, daß eine blutleere, zunehmend langweiligere offizielle Fassade viel zu lange unverändert aufrechterhalten werden kann:

Das geschilderte Verhältnis von formellen und informellen Strukturen begründet einen Organisationszustand, der wenig Chancen für eine Selbstthematisierung des Systems bietet.

Die fatale Kombination von Thematisierungsverboten, die aus der formellen Hierarchie kommen, mit den Tabuisierungszwängen des informellen Bereichs schafft ein Binnenklima, in dem der für eine effiziente und befriedigende Arbeit notwendige Grad an Offenheit im Umgang miteinander ganz sicher nicht anzutreffen ist.

Für alle komplexeren Aufgabenstellungen kann deshalb vermutet werden, daß die erforderliche Problemlösungskapazität systemintern unzureichend mobilisiert werden kann. Die gegenwärtig praktizierten Formen der Selbstthematisierung bleiben weit hinter dem zurück, was für eine angemessene Verarbeitung der Rückmeldungen (vor allem aus der Umwelt des Systems ) notwendig wäre [5].

Inzwischen spitzt sich die Lage der Gewerkschaften rasch zu. Denn wachsende Reibungsverluste – als Folge sich verschärfender interner Verteilungskämpfe um knappere Ressourcen – gehen auf Kosten der Fähigkeit, auf neue äußere Anforderungen rechtzeitig mit neuen Antworten zu reagieren. Andererseits kommt es aber genau hierauf mehr denn je an, da sich in der Arbeitswelt mit großer Dynamik Veränderungen vollziehen, die radikal veränderte Anforderungen an die Arbeitnehmer­organisationen zur Folge haben. In Anbetracht dieses Dilemmas konstatieren nicht wenige Beobachter mittlerweile besorgt eine „dramatische Lähmung“ der Gewerkschaften oder bemühen auch schon mal Metaphern wie „Dinosaurier“, um auf Schwerfälligkeit und geringe Überlebenschancen anzuspielen [6].

Aufgrund der eklatanten Schwäche, den eigenen Zustand offen zu erörtern, wächst die Gefahr, daß bei zunehmender Unsicherheit in den bewährten Denkmustern der Vergangenheit Zuflucht gesucht wird. Schon machen organisationsintern modische Schlagworte wie „Rückzug auf das Kerngeschäft“ die Runde. Doch ein solcher Rückzug auf das Bewährte führt unweigerlich in eine Sackgasse. Denn schon eine kurze Betrachtung der aktuellen und künftig zu erwartenden Umwälzungen in der Arbeitswelt läßt unschwer erkennen, daß nur ein geradezu paradigmatischer Wandel des Selbstverständnisses der Arbeitnehmerorganisationen helfen könnte, ihren existenzbedrohenden Bedeutungsschwund aufzuhalten.

2 Der Wandel in der Arbeitswelt:  Neue Wettbewerbsregeln und Paradoxa

Der Trendforscher John Naisbitt erläutert in seinem Buch ,Global Paradox’, daß als Folge der Informatisierung künftig in immer mehr Wirtschaftszweigen neue und scheinbar paradoxe Regeln gelten werden – Regeln, nach denen beispielsweise in der Informatikbranche schon heute gespielt wird. Überall dort, wo der Handel mit Informationen – in welcher Form auch immer – eine wachsende Bedeutung erhält, wandeln sich grundlegende Regeln von Produktion und Wettbewerb. Denn anders als bei der materiellen Produktion spielt bei immateriellen Werten die Menge oder die ,Seriengröße’ keine Rolle; es erfordert gleichviel (Arbeits- )Aufwand, eine bestimmte Information – zum Beispiel ein Computerprogramm – zehnfach oder zehnmillionenfach über globale Netze weltweit zu vermarkten.

Das verändert den Charakter des Wettbewerbs fundamental. Es wird immer wichtiger, schnell und innovativ zu sein, als groß oder marktanteilsstark. Während bislang in erster Linie kleine Firmen von größeren ,gefressen’ wurden, so werden in Zukunft die langsamen von schnellen ökonomisch deklassiert. Das Beispiel IBM contra Microsoft contra Netscape lieferte hierzu einen kleinen Vorgeschmack. Was künftig zählt, ist Kreativität und Flexibilität – und nicht mehr die Anzahl der Arbeitskräfte. Aus dem Wettbewerb von Strukturen wird ein Wettbewerb von Verhalten. Kurz: in einer „Digitalen Ökonomie“ [7] ändern sich weit mehr fundamentale Regeln des Wirtschaftslebens als uns auf den ersten Blick scheint.

Vor allem in der Informatikbranche, die aufgrund ihrer extremen Dynamik eine Vorreiterrolle innehat, läßt sich gut erkennen, wie Unternehmen künftig betrieben werden. Bei einer wachsenden Zahl erfolgreicher High-Tech-Firmen gibt es weder feste Stellenbeschreibungen, noch langfristige Karrierepläne und schon gar keine Stechuhren, die registrieren, wieviel Zeit jemand am Arbeitsplatz verbracht hat. Arbeitszeiten und -mengen bestimmt jeder selbst. Gearbeitet wird in kleinen Teams, die ihre jeweiligen Projekte ziemlich eigenständig durchführen. Ist eine Aufgabe abgeschlossen, löst sich die Gruppe auf, die einzelnen Mitglieder suchen sich andere Kollegen, mit denen sie gemeinsam neue Vorhaben angehen. Traditionelle Manager und überkommene Statussymbole spielen in den jungen High-Tech-Firmen kaum mehr eine Rolle.

Wenn Menschen selbst über ihren Arbeitseinsatz bestimmen können, brauchen sie keine Aufpasser mehr. Wer nach Leistung bezahlt wird, sorgt schon selbst dafür, daß er seine Arbeitskraft optimal nutzt.

3 Informationsarbeit und das Ende des Taylorismus

Treffen aktuelle Prognosen zu, werden schon im nächsten Jahrzehnt vier Fünftel aller menschlichen Arbeiten aus Tätigkeiten bestehen, bei denen Informationen Rohstoff, Werkzeug und Resultat sind. Beraten, informieren, forschen, entwickeln, organisieren, vernetzen, managen, recherchieren und gestalten – das alles sind typische Formen zukünftiger Arbeit, auch daher der Name: lnformationsgesellschaft.

Zentrales Element des Übergangs in die Informationsgesellschaft ist die allmähliche Abkehr von der heute noch vorherrschenden Organisationsform – der funktionellen Hierarchie –, wie sie sich im frühen 20. Jahrhundert unter dem Zwang, immer mehr Güter bei immer geringeren Stückkosten produzieren zu müssen, herausbildete.

Eine immer feinere Aufgabenteilung und eine wachsende Verwaltungs-bürokratie sind typische Innovationen der Massenfertigung. Die industrielle Hierarchie basiert letztlich auf der Annahme, daß sich Komplexität vom einfachen Arbeitsplatz zu den höheren Ebenen des Managements sinnvoll verlagern läßt. So wurden die Aufgabenbereiche und Entscheidungsspielräume der Arbeiter und einfachen Angestellten immer enger und die Manager immer mehr zu Hütern des zentralisierten Wissens; sie leiteten ihre Autorität aus den nur ihnen zur Verfügung stehenden Informationen ab.

Viele Menschen halten eine derartige Verwaltungsbürokratie auch heute noch für eine durchaus sinnvolle Form der Arbeitsteilung.

Doch dies ist ein Trugschluß, denn dieser Organisationsform kommt allmählich ihr materielles Fundament abhanden. Wenn Firmen mehr und mehr gezwungen sind, Mehrwert durch möglichst unverzügliche Antworten auf immer vielfaltigere Kundenwünsche zu schaffen, wird es sinnvoller und immer notwendiger, Komplexität bereits dort zu bewältigen, wo die Organisation erstmals mit ihr in Berührung kommt – also ganz unten in der Hierarchie. Probleme müssen von denen gelöst werden, die sie zuerst erkennen – für langwierige Abstimmungs-, Genehmigungs- und Delegationsprozesse über oft mehrere Ebenen und Bereichsgrenzen hinweg fehlt einfach die Zeit.

Um in einer Welt mit wachsender Dynamik Geschäfte machen zu können, müssen Firmen ihr Know-how den Mitarbeitern auf jeder Ebene zugänglich machen, Wissen und Macht müssen gleichmäßiger verteilt werden, damit alle Beteiligten so rasch, effizient und so kreativ wie möglich entscheiden und handeln können. Überall da, wo bislang Machtausübung in einer Hierarchie ganz wesentlich über Monopolisierung von Information geschah, verschwindet so allmählich eine der großen Demarkationslinien des Industriezeitalters: die scharfe Trennung zwischen Entscheidungsträger und Ausführer.

Wenn in sich rasch wandelnden Märkten Planung immer häufiger versagt, weil es doch stets anders kommt als man denkt, müssen Organisationen so umgebaut werden, daß sie vor allem eines können: möglichst intelligent mit Unvorhersehbarem umgehen. Organisationsformen, in denen Menschen nur das tun dürfen, was ihre Stellenbeschreibung erlaubt, was ein Vorgesetzter anordnet oder was sich ein Programmierer ausgedacht hat, sind hier ziemlich schnell am Ende.

Dann hilft nur eines: der Faktor ,Mensch’. Je besser man Menschen ausbildet und je weniger man ihnen vorschreibt, desto eher sind sie in der Lage, ideenreich mit Unvorhersehbarem fertig zu werden.

Management muß in Zukunft vor allem eines tun: die Motivation und den Ausbildungsstand der Mitarbeiter so sehr steigern, daß die Menschen nicht nur tun, was man ihnen sagt, sondern sogar, was man ihnen (noch) gar nicht sagen kann. Insofern ist die jüngste Wiederentdeckung des Faktors Mensch, die breite Debatte um neue Managementkonzepte und Arbeitsformen mit flacheren Hierarchien, mehr Offenheit, Selbstverantwortung und Partizipation nicht etwa eine Folge plötzlich erwachter Menschenfreundlichkeit. Sie ist vielmehr eine Folge veränderter ökonomischer Gegebenheiten, bei denen der rapide Wandel der Informationstechnik die Schlüsselrolle spielt.

Insgesamt gesehen werden mit dem Ende der traditionellen Massenproduktion, vor allem die klassischen Organisationspyramiden – oben die Würdenträger, in der Mitte die Bedenkenträger und unten die Innovationsträger – verschwinden, weil sie raschem Wandel nicht gewachsen sind. Alle Organisationen – ob Unternehmen oder Gewerkschaft – müssen sich stattdessen mehr und mehr auf eine unablässige Folge von Projekten einstellen, deren jedes eine andere Kombination von Wissen, Fähigkeiten und Erfahrung erfordert.

4 Durch ,Outsourcing’ zum Unternehmen als Netzwerk

Mit dem Wandel der ökonomischen Bedeutung von Größe und Zeit wird die Fähigkeit, schnell reagieren zu können, immer wichtiger als das tradierte Bemühen, möglichst viel von der Wertschöpfung selbst zu erzielen. Infolgedessen entdecken immer mehr Firmen, daß es profitabler ist, Güter und Dienstleistungen von anderen Unternehmen einzukaufen, als sie von ihren eigenen Angestellten herstellen zu lassen – ein Vorgang, der als ,Outsourcing’ bekannt ist. Alle nicht zum eigenen ,Kerngeschäft’, zur eigenen ,Kernkompetenz’ zählenden Aufgaben, wie beispielsweise ,Public Relations’, Personalwesen, Rechnungswesen und Datenverarbeitung, aber auch Vertrieb, Service und manches andere werden ausgegliedert und als eigenständige Unternehmen betrieben, mit denen man dann kooperiert. Durch ein Netz von Zulieferern, Subunternehmen und externen Mitarbeitern hält man die eigene Organisation so klein und so flexibel wie möglich. ,Outsourcing’ läßt sich heute in den unterschiedlichsten Bereichen und Branchen beobachten.

Typisches Beispiel ist eine finnische Papierfabrik, die unter der Belastung durch dauernd reparaturbedürftige Holzerntemaschinen litt. Das Unternehmen verkaufte die Geräte kurzerhand an die Maschinenführer und nahm diese dann unter Vertrag, ihre Arbeit wie bisher weiterzuführen. Dadurch wurde die Produktivität stark erhöht, denn die Maschinenführer hielten die Geräte nunmehr besser in Schuß und gingen mit ihnen viel sorgfältiger um als zuvor. Andere Beispiele liefern hierzulande zahlreiche Schlachthöfe, in denen die Metzger immer häufiger als Scheinselbständige auf eigene Rechnung arbeiten müssen. Während es allerdings in letztgenannten Fällen lediglich darum geht, Sozialabgaben einzusparen, haben viele der in beinhartem Wettbewerb stehenden High-Tech-Firmen, bei denen vor allem Flexibilisierung das Motiv für ,Outsourcing‘ ist, künftig kaum eine Alternative zu einer solchen Arbeitsweise.

5 Die Firma Morgana

Das Unternehmen von morgen ist häufig nichts anderes als ein Netz von wenigen festangestellten Mitarbeitern, welche die Fäden zu den externen Ressourcen knüpfen. Es ist keine isolierte Fertigungsstätte, sondern ein Knotenpunkt vielfaltiger Beziehungen zwischen Lieferanten, Kunden, anderen Dienstleistern und Wettbewerbern, die ihre Kompetenzen vereinen, um das gemeinsame Produkt herzustellen. Das ,Virtuelle Unternehmen’, so der Mitte der 80er Jahre am MIT geprägte Name, ist ein sich ständig mit den Aufgaben und Markt- erfordernissen bildendes und wieder auflösendes Beziehungsgeflecht von Firmen unterschiedlichsten Typs, ein zeitweiser, projektbezogener Zusammenschluß von unabhängigen Spezialisten, der letztlich darauf abzielt, Produkte als unmittelbare Reaktion auf die Nachfrage bereitzustellen. „Die Kollaborateure werden“, so Business Week in der Titelstory: ‚Virtual Corporation’, „sich schnell zusammenfinden, um eine sich bietende Gelegenheit beim Schopf zu packen, und um sich danach genauso schnell wieder aufzulösen“ [8, 9].

,Virtuell’ bedeutet, daß alle wesentlichen Merkmale eines Objekts vorhanden sind, außer dem Objekt an sich – selbstredend, daß das Konzept des Virtuellen Unternehmens in krassem Widerspruch zu vielen überlieferten Produktionstheorien steht. In der Tat gibt es schon heute eine ganze Reihe großer Hersteller oftmals weltberühmter Markenartikel, von Computern über Spielzeug bis hin zu Turnschuhen, die in Wahrheit ihre Produkte gar nicht mehr selbst herstellen. Statt einer eigenen Produktion betreiben nur noch kleine, hochqualifizierte Kernbelegschaften vorwiegend Forschung und Entwicklung; vor allem aber steuern und kontrollieren sie die Vergabe von Lizenzen, ,Know-how’ und Markenzeichen an Auftragsproduzenten in aller Welt. Pro-Kopf-Umsätze in zweistelliger Millionenhöhe und geradezu sagenhafte Renditen sind bei einer solchen Arbeitsweise – bei der ein Unternehmen nur noch das selbst macht, was es wirklich am besten kann und was den größten Profit verspricht – keine Seltenheit. Beispiele wie der US-Ableger des finnischen Monitorherstellers Nokia Display Products, der mit lediglich fünf Festangestellten 160 Millionen Dollar Jahresumsatz erzielt oder der Haarpflegemittel-Produzent TopsyTail (80 Millionen Dollar Jahresumsatz, drei Festangestellte) zeigen, wohin die Reise geht.

In gewisser Weise ist das Konzept des Virtuellen Unternehmens eine Begriffsmündung und Synthese aus vielen einzelnen Ansätzen: von ,Lean production’ über ,Lernende Organisation’, ,Total Quality Management’ bis hin zu ,Business Reengineering’. Es stellt als konsequente Fortsetzung all dieser Managementkonzepte einen vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung dar, in der Flexibilität über alles geht.

Teil 2: Von der ,Kaderschmiede’ zur ,Full-Service-Union’ (2/2) – Zukunft der Arbeit


Literatur:
[1] Riester, Walter: ,Die Zukunft der Arbeit – Die neue Rolle der Gewerkschaften’. In: Alfred Herrhausen Gesellschaft (Hrsg.): Arbeit der Zukunft, Zukunft der Arbeit. Stuttgart 1994, S. 179-189.
[2] ,Jugend Umfrage ‚94’. In: Der Spiegel, Spiegel special, November 1994.
[3] Berger, Roland: ,Gewerkschaften in Not? Perspektiven für einen Ausweg aus der Krise’. Vortragsfolien, Frankfurt a.M. 1994.
[4] Institut für empirische Psychologie: Trendbarometer ‘94. Köln 1994.
[5] Wimmer, Rudolf: ,Was können selbstreflexive Lernformen in der öffentlichen Verwaltung bewirken?’. In: Gruppendynamik, Heft I, 1988, S. 7-27.
[6] Hank, Rainer: ,Das Elend der deutschen Gewerkschaften’. in: Die Neue Gesellschaft I Frankfurter Hefte, Heft 2, 1995, S. 122-128.
[7] Tapscott, Don: The Digital Economy. New York 1996.
[8] Business Week, 8. February 1993.
[9] Davidow, William; Malone, Michael: Das virtuelle Unternehmen. Frankfurt a.M./New York 1993

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